Elias Kirsche - Text und Sex

Erotographie - Erotosophie - nacktes Dasein

SEXYLAND: Noch ein Schritt im Delirium?


„4 Schritte im Delirium“ – so hiess ein Sammelband mit  marginalisierter französischer Prosaliteratur, der im Jahr 2002 in Sankt Petersburg herauskam. Er beinhaltete 4 Werke: Le Con d’Irène (1928) von Louis Aragon, L’histoire de l’oeil (1928) von Georges Bataille, L’île aux dames (1988) von Pierre Louÿs und Querelle de Brest (1947) von Jean Genet. Diese Werke waren ins Russische übersetzt und gerieten „zufällig“ in meine Hände, ich war damals erst 20 Jahre jung. Das Buch könnte auch „6 Schritte im Fieber“ heissen oder „10 Stürze in den Wahnsinn“, da es noch mehr „wahnsinnige“ „erotische“ Autoren gab. Sie sind stark im 18. und im 19. Jahrhundert verwurzelt; alleine in Frankreich kann man den Marquis de Sade und Charles Baudelaire wie auch Joris-K. Huysmans und Louis-Ferdinand Céline zu ihnen zählen, auch ein paar moderne Autoren, die inzwischen Klassiker geworden sind, wie Michel Houellebecq. 

Hier und jetzt bleibt mir nicht viel übrig als mich als Schüler sowie quasi als Nachfolger dieser Herren und ihrer literarischen Tradition einzuordnen. Darum stelle ich mich hiermit auch in die Reihe der Wahnsinnigen, avec un malin plaisir, mit einem leicht perversen Hauch. Ich bin, obwohl Weltbürger, kein Franzose. Doch bereits seit meiner Pubertät faszinieren mich randständige ironische französische Autoren, Aussenseiter und Verstossene, Künstler, die von unserer doppelmoralischen Welt an den Rand oder über den Rand des Verständnisses von „guter Literatur“ gedrängt wurden. Ich aber begeisterte mich für diese „böse“, eingebildete, satirische Literatur. Und auch wenn ich nicht das Glück oder die Chance hatte, die französische Sprache zu erlernen (wer weiss, vielleicht komme ich noch in den Genuss?), so bin ich doch bereits Ende meiner 20ern Jahren ein exaltierter Verstossener geworden. Dabei habe ich selbst Hand angelegt: „Normal sein kann jeder – Exzentrik will gelernt werden!“   

Dass ich die exzessive und dekadente Literatur verehrte, war die logische Konsequenz meiner Biographie, das Fatum, die Schicksalslaune. Auch meine eigenen literarischen Wehen gingen nie über das Schaffen einer sarkastischen Pinselei hinaus. Letztendlich lohnt es sich selbst im Innersten zu fragen: Gibt es überhaupt noch eine andere Modalität, die Ewigkeit zu berühren als im dunklen Keller feine Chargen zu basteln? Ich meine, ausser es zuzulassen, sich selbst hinter die Kulissen des Theaters des Lebens zu verdrängen?
Oder sogar – aktiv die ironische Selbstentblössung zu fördern?
Mein am 18. Januar dieses Jahres verstorbener Mentor Samuel Widmer Nicolet, dem dubiose Medien einen Sex-Guru-Ruf verschafft haben, betonte immer wieder, dass es in der aktuellen Lage für ihn sogar eine Ehre sein könne, gerade verkannt zu sein. Darum gestand ich auch die Kritik der Mentoren am Literaturinstitut gerne ein, die mich dazu aufgemuntert haben, den Text wenigstens noch ein bisschen zu „verbessern“, kritikimmun und beratungsresistent zu sein. 

Und darum gehen meine Figuren (sie sind flach, notgeil, vergewaltigt, für den Roman geistig kastriert… wie die von de Sade – aber wie konnte man denn {Ohh tempora, ohh mores!!!} andere Figuren erschaffen?) auch am Lebensabend nicht weiter, als irgendeinen Fieberwahn zu nuscheln: einen Unsinn über die Stagnation der erotischen Kultur im 20 Jahrhundert. Eine Fantasterei über die Oppression der Verführung. Einen Irrwahn über die Hoffnungslosigkeit der Zukunft für die Liebe. Eine Gehirnwichserei über die völlig falsche Interpretation der sexuellen Revolution durch das 21. Jh. Meine Figuren beschimpfen die Postmoderne und das sogenannte „ ‚neue‘ ‚Selbstbewusstsein‘ von ‚Frauen‘ “, ohne zu vergessen „die Gesellschaft, die uns zu zerstören beabsichtigt, an wunden Punkten zu schlagen“ und das Meersalz in diese Wunden zu streuen – wie Monsieur Houellebecq es in seinem genialen Essay „Rester vivant“ (1991) allen wahrhaftig wahnsinnigen Poeten vermachte. Denn: Lebendig bleiben kann nur der, der die Wahrheit sagt, und das heisst – „im Delirium spinnt“. 

Einer, der die oben erwähnten Autoren und Werke zu schätzen weiss, wird höchstwahrscheinlich auch im zynischen Brummen, Meckern und Raunzen von diesen zwei in der Liebe gescheiterten Graubärtigen, Urgrossvater und Urenkel, die im Abstand von genau 100 Jahren auf die Welt kamen, irgendwas für sich herausholen. Wenigstens wird er (oder vielleicht eine sie?) in der pseudointellektuellen Dystopie, im SEXYLAND, ganz plötzlich den Nachhall von Stimmen meiner Lehrmeister hören. Die Lehrmeister, von denen nur einer noch lebt.
Alle anderen Leser/innen werden ihn kaum lieben können, diesen ruppigen und fiktiven Text, diesen Wahnsinn, zum Teil sehr höflich beschnitten durch einen vierjährigen institutionellen Humanismus, zum Teil erschwert durch meine Überlebenskämpfe an privaten und geschäftlichen Fronten, und zum Teil einfach aus den… Fingern gesaugt.
Werden ihn kaum lieben, und aller Wahrscheinlichkeit nach missverstehen.