Romane

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Zugbegleiterin

Die Zugbegleiterin steht vor der Tür des einzigen Wagens im Zug, der nach Tscherkassy fährt. Auf dem Weg nach Tscherkassy werden die Waggons nach und nach abgekoppelt. Nur dieser eine Wagen kommt in Tscherkassy an. Dies ist die festgelegte Ordnung. Die Ordnung wurde von der Partei festgelegt, um Arbeit und Kraftstoff zu sparen.

Die Zugbegleiterin steht am Wageneingang und überprüft die Fahrkarten. Bella hat keine Fahrkarte. Sie stoppt Bella. Sie verlangt entweder die Fahrkarte oder ein Bestechungsgeld in der Höhe von 20 Rubel. Dies nennt man „Gib auf die Pfote!“. Aber Bella hat nur 11 Rubel und 60 Kopeken in ihrer Handtasche. Es reicht nicht, um auf die Pfote zu geben. Der Rest des Geldes ist in Bellas Geheimtasche versteckt. Bella hat so eine Geheimtasche in ihrem BH. Sie kann hier kein Geld rausnehmen. In der Kälte, auf einer Plattform, auf der viele Menschen hin und her gehen. Bella zögert. Sie schämt sich. Es ist nicht üblich, in der Öffentlichkeit in ihrem BH zu stöbern. So hat ihre Mutter Matilda sie unterrichtet.

Drei Minuten, bevor der Zug abfährt, bricht Bella zusammen. Sie wird hysterisch. Bella kniet vor der Zugbegleiterin. Bella fällt vor einer Fremden auf die Knie. Sie fällt auf die glatte Eiskante der Plattform. Sie fühlt kaltes Eis unter ihren Füssen. Bellas Knie ist verletzt und blutet. Scharlachrotes Blut fliesst auf den Asphalt. Bella schluchzt und fleht. So, wie die Kassiererin ihr sagte:

„Ich – Sie anflehen! Liebe Frau! Liebe Frau! Mich – bitte hereinlassen!“ 

Bella faltet ihre Hände, wie im Gebet. Aber die Zugbegleiterin des Wagens Winniza-Cherkassy ist unerbittlich. Sie weiss, wie schwer es ist, Tickets zu bekommen. Und sie wartet auf die Pfote, auf 20 Rubel.

„Liebe Frau! Mich – bitte reinlassen! Hier: ich haben 11 Rubel 60 Kopeken! Den Rest – Ihnen später geben! Ich Sie gut bezahlen! Nicht 20 Rubel, sondern ganze 25! Ich versprechen!“

Die Zugbegleiterin des Wagens Winniza-Cherkassy reagiert in keiner Weise auf Bella.

„Liebe Frau! Mich – bitte reinlassen! Ich – Sie bezahlen, ich Ihnen sagen! Sonst meine Tochter sterben! Sie verstehen?! Verstehen?! Meine Tochter sterben im Krankenhaus Cherkassy!“

Die Zugbegleiterin des Wagens Winnitsa-Cherkassy reagiert in keiner Weise auf Bella.

Bella macht ihren letzten Versuch:

„Liebe Frau!! Hier – Geld nehmen!! Hier – ich Geld haben!! Geld hier – im BH!! Ich später herausnehmen!! In Toilette – oder in Ihr Abteil!! Mich bitte reinlassen!! Sonst – ich mich unter Ihren Zug werfen!! Ich es jetzt ernst meinen!! Ich – mich wirklich unter Ihren Zug werfen!! Ich – mich unter Ihren Zug werfen, denn ich meine einzige Tochter haben, und ausser der Tochter sonst nichts zu verlieren!!!“

Die Zugbegleiterin des Wagens Winniza-Cherkassy ist ein junges Dorfmädchen. Sie sieht Bellas Schluchzen und Blut. Sie erkennt, dass Bella wirklich Geld hat. Sie versteht endlich Bellas Situation. Sie drückt auf den Stopp-Kran. Jetzt tut ihr diese fremde Frau sogar leid. Sie findet es sogar schade. Die Zugbegleiterin schaut jedoch weiterhin auf Bella herab. Es liegt jetzt in ihrer Macht, Bella zu ihrer sterbenden Tochter fahren zu lassen oder nicht. Das junge Dorfmädchen überlegt es sich noch eine Minute und lässt Bella dann einsteigen.

Die Zugbegleiterin führt die blutende Frau in ihr Abteil. Sie gibt Bella Jod und Wodka und hilft ihr, die Wunde zu desinfizieren. Erst dann gibt die Zugbegleiterin mit einer Verzögerung das Signal zur Abfahrt. Wegen ihr fährt der Zug 11 Minuten später ab.

Zwei Frauen fahren nach Tscherkassy im Abteil der Zugbegleiterin, die ganze Nacht. In ihrer geheimen BH-Tasche trägt Bella neben Geld ein Stück Papier. Das ist das Papier ihres Schwiegersohns, das er 1985 unterschrieben hat. Bella hält ihre Hand die ganze Nacht am Herzen.

Bella packt das Geld am Morgen vorsichtig aus. Und das Stück Papier von ihrem Schwiegersohn. Sie taumelt zur Toilette. In einer schmalen und stinkenden Zugtoilette zieht sie ihren Pullover aus und knöpft ihren BH auf. Sie selbst hat diese geheime Tasche genäht. Bella holt einen Umschlag mit Geld heraus. Sie steckt fünfundzwanzig Scheine mit 100 Rubel in ihre Handtasche. Um sich schnell von ihnen zu verabschieden.

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Kassiererin

Bella muss so schnell wie möglich zu Anna kommen. Die Stadt Tscherkassy kann nur mit dem Nachtzug erreicht werden. Aber die Tickets für den Nachtzug sind schon lange weg. 

„Tickets für Nachtzüge – im Voraus buchen.  Im Voraus – mindestens einen Monat!“ erklärt die Kassiererin Bella an der Kasse.

Bella schweigt. Sie versucht etwas zu sagen, kann es aber nicht. Bella ist blockiert.

„Liebe Frau! Sie – so naiv aussehen! Sie – aus dem Ausland zu uns gekommen?!“, fragt die Kassiererin an der Kasse. Die Kassiererin an der Kasse versucht, die Lücke zu füllen.

„Als ob Sie vom Ausland hierher gekommen und noch nicht wissen, dass Sie angekommen im hochentwickelten Sozialismus …“ sagt die Kassiererin an der Kasse.

„Hochentwickelter Sozialismus bedeutet: Fahrtkarten – für Nachtzüge – mindestens 30 Tage vor Abfahrt bestellen!“

Bella sammelt ihre Kräfte und beginnt zu sprechen:

„Meine Tochter ist in einem Krankenhaus, in Tscherkassy. Ihr Leben – in Gefahr. Ich muss sie sehen.“

„Liebe Frau! Es tut mir Leid. Aber ich kann nichts tun für Sie.“

„Verstehen Sie, liebe Frau, ich muss das Geld Professor übergeben, der operiert… Sie verstehen? Meine Situation?“

„Liebe Frau! Tut mir so leid. Aber ich Ihnen kann kein Platz verkaufen, das ich nicht habe. Ich nichts für Sie tun. Vielleicht Sie besser das Geld per Post schicken?“

„Liebe Frau! Vergessen Sie per Post! Wir hier nicht in Amerika! Wir hier im hochentwickelten Sozialismus! Post sehr viel kostet. Und Post sehr lange dauern.“

„Liebe Frau! Tut mir so Leid…“

„Schauen Sie! Ich – Geld haben. Viel Geld. Ich – plus Fünfzehn Rubel bezahlen. Nur Sie, persönlich! Liebe Frau! Hier, schauen! Hier der Umschlag! Ich bitte Sie. Finden Sie ein Platz…“

Die Augen der Kassiererin leuchten. Sie sind nass. Die Kassiererin weint:

„Liebe Frau! Sie – mich missverstanden haben. Ich – nicht auf die Pfote bitten. Ich – Ihnen sofort ein Ticket verkaufen. Normal verkaufen, regulärer Preis, nicht mit auf die Pfote. Drei Rubel, dreissig Kopeken. Nur so, dass wir wirklich haben gar keine Tickets am Bahnhof. Nur so, dass ich Tickets Ihnen nicht vom Himmel zaubern kann! Liebe Frau! Hören Sie, was ich sage ihnen: Aufmerksam zuhören! Sie – sofort zum Zug gehen! Und Sie – Zugbegleiterin anflehen! Sie gehen und die Zugbegleiterin anflehen. Bitte! Nicht mich! Bitten Sie, flehen Sie Zugbegleiterin an! Anflehen Sie, buchstäblich. Vielleicht Zugbegleiterin Mitleid mit Ihnen haben und Sie mitnehmen. Nach Tscherkassy. Mitnehmen Sie! Gleich! Auf den Zug!“

An der Rückwand der Kasse hinter der Kassiererin befindet sich ein Porträt von Lenin. Unter dem Lenin-Porträt hängt ein Plakat. Das Plakat zeigt eine junge Bäuerin, die sehr optimistisch nach vorne schaut. Die Bluse der Bäuerin ist rot. Unter dem Plakat befindet sich der Slogan. Der Slogan ist in grosser und kräftiger roter Schrift auf weissem Hintergrund gedruckt:

Mit jedem neuen Tag wird das Leben freudiger!

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Sandra

Sandra lernte ich in meinem Tantra-Jahrestraining kennen. In den Jahren 2007-08 absolvierte ich einen solchen Kurs plus einen Tantramassagetraining. Ich wollte mehr über spirituelle Aspekte der Sexualität erfahren und lernen, wie ich Cat noch sinnlicher und erotischer berühre, als ich es ohnehin schon tat. Cat war zu dieser Zeit bereits meine Ehefrau. Wir heirateten in Dänemark und lebten kürzlich zusammen in Berlin. Ich beendete meine Ausbildung am Berufskolleg in Dortmund mit Auszeichnung. Ich fand aber keine Arbeit in der Werbebranche, obwohl ich mehr als hundert Bewerbungen bei allen grossen Werbeagenturen Deutschlands einreichte. Zwei Jahre später ging ich an die Humboldt-Universität Philosophie studieren. Ich wollte verstehen, warum mein Leben so seltsam verlief. Cat und ich dürften wegen der russischen und der deutschen Bürokratie und des geltenden Ausländerrechts in Deutschland lange nicht zusammenleben. Wir hatten aber gewisse körperliche Bedürfnisse. Es blieb uns darum nichts anderes übrig als eine offene Beziehung zu führen. Die Bürokratie und die Gesetzeslage waren somit die Hauptauslöser dafür, dass ich es Schritt für Schritt erlernen sollte, mich sexuell auf mehr als eine Person einzulassen. Es war das weder mein Wunsch noch meine ursprüngliche Absicht. Da Cat nicht nach Deutschland dürfte, dürfte ich manchmal andere Mädchen verführen. Und auch Jungs. Und Cat dürfte es natürlich auch.

Und Sandra… Sandra war sehr hübsch. Vielleicht könnte sie mit solch einer exquisiten Schönheit eine Karriere im Model-Geschäft anstreben. Raffiniert, schlank, Beine von den Schultern. Aber nicht wie ein Kleiderbügel, sondern anmutig, fliessende Formen, sinnlich. Ihr tolles äusseres wurde ergänzt durch braune Rehaugen, lange glatte Haare und einen ausgeprägt vollen Mund. Sogar ihre Handflächen und Füsse waren eindeutig als Vorbild geschaffen, daher verstehe ich nicht, wie sie darauf kam zunächst Jura zu studieren, und warum sie denn die Anwältin werden wollte. Nun, als sie vom Rechtssystem völlig desillusioniert war, ging Sie zur Elite-Eskort. Natürlich wurde ihre samtige tiefe Stimme vom Schöpfergott nicht nur für die Gerichtswände geschaffen. Ihre lange dünne Finger waren nicht nur dazu da, um falsche und heuchlerische Argumente für Klagen daraus heraus zu saugen. Und die Hauptfunktion ihrer unübertroffenen Beine war sicher nicht nur das Gehen! Andererseits war es auch nicht die beste Berufung für ihre Lippen, die alten Schwänze zu lutschen. Für ihre Hände, die trägen Hoden zu drücken. Oder die Beine wie ihre über fette männliche Schultern zu werfen. Im Grunde genommen musste man Sandras Körper betrachten. Bewundern. Und ihn verewigen.

Sobald ich Sandra sah, begann ich zu beten, dass sie meine Partnerin für den Kurs werden würde, er dauerte ungefähr zwei Jahre. Der gnädige Herr hörte auf mein Gebet: Dieser Wunsch ging in Erfüllung: Sandra kam selbst zu mir, sprach mich selbst an und liess sich von mir berühren. Zum ersten Mal war meine ästhetische Freude so gross, dass ich nicht einmal einen harten Schwanz kriegte: Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, ihren Körper zu nehmen und zu vögeln. Ich glaube jedoch, dass ihre Kunden solche Bedenken nie hatten…

Ich war 25 Jahre alt, als wir uns trafen. Sandra war anscheinend 30 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt gab sie sowohl ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin wie auch als Elite-Eskort in Frankfurt auf. Sie widmete sich der gleichen Sache wie ich — der erotischen Forschung. Unser Training gefiel ihr jedoch gar nicht: Der Lehrer wirke zu dominant und narzisstisch, und der Rest der Teilnehmer sei zu alt, und sexuell zu bedürftig, meinte sie. Nur die Wenigsten galten für Sandra als Ebenbürtige. Einschliesslich mich — ich war ihr viel zu schüchtern.

Sandra positionierte sich als eine „freie Frau“ und engagierte sich viel in der Frauenbewegung. Sie war Mitglied von zwei feministischen Vereinen. Ein Gehalt von circa 8.000 € in der Unternehmensberatung war für Sandra nicht genug, da ihre männlichen Kollegen 10.000 € bis 11.000 € erhielten. Ich sagte ihr, dass sie mit der Organisation von nur 2-3 Dates pro Woche ganz schnell auf 16.000 € kommen kann, wobei die Männer, die mit ihr 2-3 Mal kurz Spass haben, gleich auf ihr finanzielles Niveau absinken werden. Sie müssen dann doppelt so viel arbeiten, um auf die 16.000 € zu kommen. Sandra lehnte sofort ab: 700 € bis 1000 € pro Date seien für eine Top-Model wie sie zu wenig.

„Für dieses Geld — Maximum die Massage! Besser macht so ein Typ es sich selbst!“ schrie Sandra laut:

„Und einen blasen soll er sich auch selber!“ fügte sie hinzu.

„Na ja… Auch ein Modell mit perfekten Massen wird nicht besser pro Sitzung entlohnt,“ antwortete ich.

„Ich bin aber nicht irgendein Model mit perfekten Massen!“ — schrie Sandra.
Ich stritt mich nicht weiter mit ihr. Mir wurde schnell klar, dass Sandras Gier und Stolz ihr schönes Wesen irgendwann zerstören werden.

Trotzdem lud ich sie nach dem Kurs zu uns zum Abendessen ein. Cat servierte uns Spaghetti Frutti di Mare. Danach sassen Sandra und ich auf der roten Sofa im Wohnzimmer. Cat ruhte sich neben uns in einem Sessel aus, gekleidet in ein Spitzenkleid, heiss und schmelzend. Sie wartete, bis ich endlich soweit bin, sie beiden zu einem ménage à trois zu verführen. Ich fand es sehr schade, dassCat selbst die Initiative nicht ergriff. Denn diese zwei Mädchen unter sich begeisterten mich bereits damals mehr als ich in der Mitte.

Ich bewunderte Cat und Sandra. Parallel fragte ich mich, warum Sandra in dem Fall nicht selbständig arbeitete. Wenn sie so klug, so launisch, und so leserlich ist, kann sie ihre Kunden doch selbst auswählen! Ihren eigenen Tarif verlangen. Alles würde dann perfekt ablaufen. Als ich ihr diese Frage stellte, entmutigte mich die Antwort: Ja, sie dachte bereits darüber nach und suchte sich sogar schon ein geeignetes Studio in Frankfurt am Main. Aber alles stockte in… in… Achtung: Im Stuck! An der Decke! Ja, unsere Sandra wollte unbedingt in einem Studio mit Stuck arbeiten! Ansonsten — auf keinen Fall! Doch im Zentrum von Frankfurt am Main waren alle solche Studios in amerikanischen Neubauten! Und alle leider ohne Stuck! Ah, wie schrecklich!

„Oh! Mein Gott, Sandra! Machen Sie sich doch einen Stuck nach Bestellung!“ — Cat warf sich beiläufig hin und griff graziös nach ihren Zigarillos. 

In einem Seidennachthemd von Yves Saint Laurent, mit ihrem langen und dünnen Captain Black im langen und dünnen schwarzen Mundstück sah Cat eleganter und edler aus als Sandra. Gott sei Dank war sie — und nicht etwa Sandra — meine Ehefrau.

„Das ist eine tolle Idee, den Stuck selber formen zu lassen!“ — sagte Sandra.

Ihr Business-Plan wurde somit vollständig. Aus diesem Grund verabschiedete sie sich bald von uns und wünschte uns einen angenehmen Abend.

— Der Abend war mehr als nur angenehm.

— Ich schwöre. 

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Helene

Helene stammte aus einem adligen Petersburger Geschlecht. Sie war eine grünäugige zierliche Blondine mit langen goldenen Locken und einem Engelsgesicht. Wir lernten uns in Internet kennen, als ich noch in Magdeburg lebte. Dort konnte ich keine adäquate russischsprachige Freunde finden und ich sprach auch nicht gut Deutsch. Aber in zwei Monaten kaufte ich mir mit meinem Kindergeld meinen ersten Computer und zwei Monate später stellte ich eine Verbindung zum Internet her. Noch in der Ukraine lernte ich, wie man einen Computer bedient, und ein Bekannter zeigte mir das erste russische Chat-Portal, www.chat.ru. Dort gab es verschiedene Räume oder Kanäle und einer der Räume hiess „It’s all about Sex!“ Nachts „hingen“ dort Nutten und ihre Freier rum, aber auch allerlei Künstler und Boheme. Das war logisch: wer hatte noch in den späten 90ern in Russland Internet?

Ich war damals noch nicht Mal Achtzehn Jahre und Helene war Zwanzig Jahre alt. Es stellte sich heraus, dass Helene in Frankreich, in Paris, lebte, und dass erotische Fantasien dieses Engels eher teuflisch sind. Helene sprach Russisch wie ein Kind, sie liebte Diminutive und Koseformen. Aber der Inhalt von ihren Aussagen … — allesamt orgiastische Träume. Sado-Maso-Phantasien. Und Gruppensex. Helene war auch das erste Mädchen, das ich nackt über den Webcam sah. Ihre nächtliche virtuelle Striptease galten damals, vor mehr als zwanzig Jahren, als eine super-innovative Technologie.

Helens Freund namens Edi war ein Franzose. Er sah dem Protagonisten des Films „The Dreamers“ sehr ähnlich aus. Edi war der Sohn eines der Pariser Anwalts und Abgeordneten. Edi und Helene hatten gerade angefangen, Jura zu studieren. Routine Studentenleben forderte Abwechslung und so luden sie mich im Sommer zu sich ein. Helene und ich gönnten uns viele Freuden auf einer harten Matratze in ihrem Studentenwohnheim in Paris, während Edi an einer Hausarbeit bastelte. 

Er sass am Tisch, er drehte sich eine halbe Umdrehung zu uns um und schaute manchmal in unsere Richtung. Sein Blick war verlegen und wir waren auch verlegen als er auf uns sah. Darum wurde ich etwas weicher, dann aber wieder härter, und unsere Helene amüsierte sich. Dann war sie auch erregt.

In diesem Sommer probierte Helene erotische Outfits an: Höschen, Strümpfe, Hemden und Negligé. Sie gab sich mir hin, dann wiederum Edi und manchmal uns beiden gleichzeitig. Für uns alle war dies die erste Erfahrung des Trios. Die Nachbarschaft hörte lautes Stöhnen, auf Russisch und Französisch, im Wechsel. Edi kniff Helenes Mund mit seiner Handfläche zusammen damit — Gott bewahre —  ihre edle Herkunft nicht gefährdet wird. Nachdem wir beide in sie kamen — natürlich ohne Kondome — fertigte Helene nackt kleine Skizzen an, mit Pastelle oder Aquarelle oder Bleistifte. Das waren süsse, fast kindliche Skizzen für ihr Tagebuch, wo ich, in einen langen Ledermantel verkleidet, sie mit Peitschen und Wimpern auspeitschte. Alles in rosa-blauen Tönen gehalten. Der Barbie-Puppe-Stil. Unsere Silhouetten waren auf ihren Skizzen völlig flach und schienen im Raum ohne Boden zu hängen. Die sanfte Zärtlichkeit der Linien konnte aber kein Kritiker verneinen. An einem dieser romantischen Abende peitschte ich Helenе tatsächlich mit einer kuscheligen Peitsche aus. Ich verwöhnte ein Mädchen damit zum ersten Mal und es stellte sich als spannend heraus. Es war aber nicht so einfach, die selben Stellen ihren kleinen Popo zu treffen. 

Das Auspeitschen als erotische Unterhaltung lernte ich von Cat, meiner allerersten Geliebten. Im Internet hiess Cat Kisaket, 7 Jahre später wurde sie zu meiner ersten Ehefrau. Ich lernte Kisaket im selben Raum auf www.chat.ru kennen, ein halbes Jahr bevor ich Helene kennenlernte. Wie Helene auch, war Cat zwei Jahre älter als ich. Aber Cat sah ganz anders aus. Sie war grösser als ich, 185 cm gross. Sie war wild. Rothaarig. Und La Femme Fatale-Typ.  Ausserdem war Cat bisexuell und zog einige Sexsklaven auf. Mit so einer Frau verabschiedete ich mich also von meiner Jungfräulichkeit. Cat meinte es immer sehr ernst mit dem Auspeitschen. Und Edi… Edi lachte nur darüber. Oder er holte sich einen runter und zeigte mir seinen Daumen. Edi verstand fast kein Russisch und ich leider fast kein Französisch. Wir mochten kein Englisch. Und er konnte kein Deutsch. Ah, die Scheisssprachbarrriere! 

Als ich nach Deutschland zurückkehrte begann Helene mehr Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Doch viele Nachtgespräche ermüdeten mich. Ich wollte mehr Zeit für Cat aufwenden, die in Moskau lebte und mit der ich eine richtige Fernbeziehung führte. Deshalb machte Helene mit mir Schluss.

Drei oder vier Jahre vergingen. Ich absolvierte die gruselige Schule in Magdeburg und schrieb mich an einem Berufskolleg in Dortmund ein. Die Schwerpunkte waren Grafik- und Webdesign. In diesen Jahren fuhr ich oft durch Europa herum. Einmal während kalten Wintertagen verbrachte ich die Nacht alleine in einem billigen Hostel in Paris. Es schien, dass ich Helene in einer der Shows auf einem bezahlten Sex-Fernsehsender wiedererkannte. Ein Jahr später entdeckte ich zufällig ein Mädchen, das ihr sehr ähnlich war, auf den ersten Fetisch-Seiten im Internet und danach in Roy Stuart’s berühmtem Album „Volume II“. War das wirklich sie? Engelchen Helene, mit ihrer frühen Vorliebe für Nymphomanie, schien es geschafft zu haben, eine schnelle Karriere im Art-House-Porno zu machen.

Wo bleibst du nun, unser grünäugiger Teufelsengel? Und wo bleibt der Edi?

— Wir hatten es so schön zusammen.

— Ich vermisse euch.

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Lena und Lera

Lena und Lera waren die ersten zwei Nutten, mit denen ich eine persönliche Bekanntschaft machte. Sie zogen 1998 aus Kasachstan nach Deutschland. Das war im selben Jahr, in dem auch unsere kleine Familie nach Deutschland zog, aber aus der Ukraine. Lena und Lera erlebten in Kasachstan in den späten 1990er Jahren das selbe Elend, wie wir in der Ukraine. Beide waren wie ich 17 Jahre alt. Aber sie begannen sofort nach der Ankunft in Magdeburg sich zu prostituieren, ohne diese Angelegenheit auf lange Sicht hinaus zu schieben. 

Lena und Lera waren sich sehr ähnlich, nicht nur bei ihren Namen. Auch äusserlich waren sie sich sehr ähnlich, so dass nur jemand, der sie sehr genau kannte, sie unterscheiden konnte. Wenn Sie den Film von Ilja Chrschanowski „4“ gesehen haben, erinnern Sie sich wahrscheinlich daran, dass nach der Handlung des Films viele Mädchen im postsowjetischen Raum über drei Klone verfügen. Das heisst, dass es von jedem vier gleiche gibt. Wenn Sie daran glauben, können wir davon ausgehen, dass es irgendwo in Kasachstan ein anderes Paar gab, das mit Lena und Lera völlig identisch war. Und wenn Sie dieser „Verschwörung“ nicht vertrauen, können wir davon ausgehen, dass es tatsächlich noch viel mehr Klonen von Lena und Lera gibt. Was meine ich damit? — Nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Tatsache, dass es mir schwierig fiel, individuelle Merkmale bei Lena und Lera zu finden.

Ich traf Lena und Lera drei Wochen nach unserem Umzug nach Deutschland, als ich mit meiner Mutter in einer neuen deutschen Strassenbahn in der Stadt Magdeburg unterwegs war. Wir fuhren in die „Sonderschule zur Integration von Ausländern in die deutsche Gesellschaft“, wohin ich verwiesen wurde, um uns mit dem Schulleiter zu treffen. 

Wir waren nervös. Die Schule, der Schulleiter — das ist normalerweise mit etwas Belastung verbunden. Vor allem in einem fremden Land.

In den angrenzenden Abteilung sassen zwei Mädchen. Beide sahen zwei Barbie-Puppen sehr ähnlich: Beide trugen blaue Jeans, rosa Blusen und weisse Turnschuhe. Beide hatten goldene Locken und übertrieben geschminkte Augen und Lippen. So sahen in Magdeburg damals circa 70% bis 80% der einheimischen Mädchen aus. Ich fragte mich, wieso in einem „freien Land“ wie Deutschland fast alle Mädchen fast gleich aussahen. Wir kamen ja gerade aus einem „totalitären Land“, aber bei uns sahen viele Mädchen sehr unterschiedlich aus. Dann fragte ich mich, ob dieser Stil eher den Verlangen oder die Langeweile oder den Ekel auslöste? Plötzlich sagte das erste Mädchen ganz laut in reinem Russisch:

„Lenka! Wie geht es denn unsern Brüdern aus Kasachstan? Wie war’s gestern auf der Hütte?“

Mama zuckte überrascht zusammen und flüsterte zu mir leise:

„Siehst du, Iljuscha… Unsere Mädchen… Es scheint, dass sie auch zu deiner Schule fahren… Vielleicht werdet ihr Freunde…“

Das zweite Mädchen antwortete emotional und gestikulierte sehr schnell mit molligen Fingern. Ihre Fingernägel waren auffällig scharlachrot gefärbt:

„Lerka! Die Hütte war meeegageil! Sowas kannst du dir gar nicht vorstellen! Ljoha und Yurets haben mich beide so durchgefickt! So durchgefickt wurde ich! Es war meeegageil! Das kannst du dir gar nicht vorstellen!“ 

Sie umklammerte sogar ihren Kopf mit beiden Händen. Und dann — betont wichtig — ihren Schritt. Dann fügte sie hinzu:

„Sie haben mich bis zum Morgen durchgevögelt. Meine Votze ist ganz gereizt. Es tut mir megaweh!“

Und dann sagte das erste Mädchen, Lera:

„Verdammt, Lenka! Cool! Und was ist mit dem Anekdot? Wie geht es denn Anekdot? Sag mal!“

Meine Mutter und ich sassen so da, als ob wir einen Ping-Pong-Ball im Mund hatten. Während Lena weiter ganz laut Russisch sprach, konnten wir uns nicht einmal bewegen. Trotzdem hörten wir uns ihre Rede aufmerksam an, sehr reichlich mit Flüchen und seltsamem Slang gewürzt. 

Ich wuchs in der Westukraine auf. Ich ging dort während Zehn Jahre in eine Sprachschule mit vertieften Kenntnissen der englischen Sprache, zusammen mit den dort stationierten Töchtern und Söhnen der russischen Offizieren. Ich hatte immer die besten Schulnoten und beendete jedes Schuljahr mit einer „potschjotnaja Gramota“, einer Ehrenurkunde. Unter meinen vor und während der Oktober-Revolution in den Sowjetunion ausgerotteten Vorfahren waren Aristokraten und Adlige. Die Wörter „Prostitution“ oder „Nutte“ waren in unserer Familie ein Tabu, geschweige denn die Wörter „ficken“ und „geil“. Das Thema Sexualität wurde nie in irgendeiner Form angesprochen. Obwohl Lera und Lera sich in meiner Muttersprache — Russisch — austauschten, musste ich selbständig die Bedeutung von vielen Worten entziffern, die sie benutzten. Einige Wörter klangen sowohl einheimisch wie auch fremd. Ich hatte eine nur wage Vorstellung, was sie bedeuteten. Der Satz meiner Mutter blieb in meinen Ohren: 

Unsere Mädchen … Vielleicht werdet ihr Freunde…“

Ich lächelte.

Der Schulleiter sichtete kurz meine Zeugnisse und Empfehlungsschreiben — sie wurden alle von der einheimischen Schule ausgestellt. Mit einem absolut gleichgültigen Blick fragte er mich auf Englisch, ob „5“ in meiner Heimat die beste Note bedeute. Nicht ohne Stolz antwortete ich mit „Yes, that means it.“ Ohne wirklich nachzudenken, wies mich der Schulleiter in die achte Klasse ein, obwohl ich in meiner Heimat bereits die zehnte Klasse beendete. Ich hob meinen Kopf, sah zu diesem Herrn mit grauem Haar auf und fragte:

„But why in the eight class, Mister Director?“

„Because you don’t speak any German!“ — antwortete der Schulleiter. Ich wurde traurig. Dabei ahnte ich noch nicht, dass der deutsche Lehrplan in der Sonderschule weit hinter meiner Offiziersschule zurückblieb. Abgesehen vom lernen der Deutschen Sprache lernte ich in dieser Schule überhaupt nichts. Ich langweilte mich zum Tode. Durch den Umzug ins Ausland verlor ich also drei Jahre, von den 17. bis 20. Lebensjahr. Die drei besten Jahre meines Lebens.

*          *          *

In einem zerschlissenem, heruntergekommenem und dunklen Klassenzimmer, das noch viel deprimierender aussah als ukrainisches, sassen in der letzten 

Reihe drei Jungs, die mich an unsere Brüder erinnerten. Sie waren deutlich älter als ich, ungefähr Zwanzig oder älter als Zwanzig, und alle waren zwei- bis dreimal rauer und voller als ich. Sie tranken Wodka aus Plastikbechern, fluchten laut und sahen elend, aber auch bedrohlich aus. Ich sammelte meine Kraft als ich meine schmalen Schultern straffte. Ich ging auf sie zu und sagte:

„Hallo.“

Der erste Typ, anscheinend am wenigsten grober, antwortete:

„Hallo. Ich bin der Anekdot. Und das sind Ljoha und Yurets.“

Diese drei sah ich sicher vorher nie. Aber ihre Namen kamen mir bekannt vor. Ljoha fragte:

„Und wie heisst du?“

Ich überlegte eine Weile und antwortete:

„Elias.“

Dann sagte der Anekdot:

„Cooler Name!“

Und Ljoha fragte:

„Kannst du fönschwatzen?“

Ich verstand die Frage nicht. Aber ich konnte auch nicht noch einmal fragen. Es war mir irgendwie extrem peinlich. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Dann sagte ich sehr leise und verwirrt:

„Ja…“

Aber dann behauptete Ljoha sofort, mit einem Grinsen und etwas seltsamer Zuversicht:

Also — bist du ein Fönschwatz!

Mir wurde übel. Ganz schüchtern schaute ich sie an, hob den Kopf und wagte es nach einer Pause erneut so brav wie möglich zu fragen:

„Was denn nun?!“

Yurets stand auf, trank einen langen Schluck Wodka, rülpste laut und sagte:

„Nichts! Du — Fönschwatz! So’nen Spitzname wirst du tragen! Ab sofort!“ 

Alle drei wieherten laut. Und ich war sofort bereit, durch den Boden zu fallen. 

Glücklicherweise betrat plötzlich ein grosser, dünner Mann in Weiss und mit langem Hals die Klasse. Es war der Mathematik-Lehrer. Sein Auftritt unterbrach diese seltsame Unterhaltung. Yurets versteckte schnell die Flasche mit Wodka unter dem Tisch und alle gaben vor, das Wasser zu trinken. Dann sagte Ljoha laut:

Fönschwatz, du, Schlingel! Schuuhherrr!!! Der Gans ist da!“

Der Mathematiklehrer warf mir, einem Neuling, einen verstohlenen Blick zu und setzte dann einen Russischen Akzent auf Lech:

„Ssssschhhhlingel! Schuuhherrr!!“

Die drei wieherten wieder. Der „Gans“ lächelte mich zur Begrüssung an, schätzte meine Figur und meinen langen Hals. Ich denke, dass es zwischen ähnlichen Menschen eine Art unausgesprochene Solidarität gibt. Der „Gans“ ging langsam zu unserem letzten Reihe, nahm einen Plastikbecher vom Tisch und hob ihn mit einer Grimasse an seine Lippen. Dann Schnüffelte er der Inhalt und sagte: 

„Wodka! Pit’ Wodka w Schkola — eto ne jest choroscho. Wam wsem Tadel!“

Der „Gans“ ging zum Tisch und holte einige Papiere aus seiner Aktentasche. Die Glocke läutete, scharf und durchdringend, wie das Zerbrechen von Glas. Matheunterricht hat begonnen. Während die deutschen Achtklässler lautlos und äusserst konzentriert das Volumen des Würfels berechneten, sagte Yurets plötzlich leise auf Russisch in Richtung von „Gans“:

Verdammt, Kurrrva! Tadel, Kurrrva! Fick dich ins Knie, du — Hurrrensohn!

Und Ljoha antwortete ihm gleichgültig:

„Macht doch gar nix! Tadel-Sradel… Hühnerscheisse ist das! Und der Gans ist ein Arsch!“

Ich verstand nichts. Absolut nichts. Obwohl beide, wie ich, Russisch sprachen. Bis zum heutigen Tag verstand ich fast alles, sogar auf Englisch. Ich hatte das Gefühl, als ob die Angst mich am ganzen Körper binden würde. Anekdot holte mich aus der Benommenheit. Er fragte plötzlich:

„Du, Fönschwatz! Wo wohnst du denn?“

Die sechs Augen richteten sich wieder auf mich. Ich schluckte und rasselte:

„In der Leiterstrasse. Hausnummer drei!“

Nach acht Wochen in einem schlicht eingerichtetem Flüchtlingsheim — einem Plattenbau im Zentrum von Magdeburg — bekamen wir eine Mietwohnung. Eine Dreizimmerwohnung. Und schon wieder in einem Plattenbau! Die Adresse lernte ich gleich auswendig.

Lyoha und Yurets gaben plötzlich die Berechnung des Würfelvolumens auf. Sie sprangen abrupt auf ihren Sitzen auf und schrien gleichzeitig:

„In der Leiterstrasse drei?! Was?! Wirrrklich?! Das ist aber eine Nummer! Das ist aber eine heisse Nummer! Kurrva! Verdammte Scheisse!“

Ich war noch mehr verwirrt. Anekdot erklärte es mir dann aber ruhig:

„Pass auf, Fönschwatz: In deinem Haus leben zwei geile Nutten. Zwei durchgefickte nuttige Votzen! Diese Miezen heissen Lena und Lera!“

Yurets beruhigte sich wieder und fuhr mit seinem Redefluss fort:

„Gestern haben Ljoha und ich die beide Votzen durchgefickt. Zusammen! So geil war das! Und wie wir sie durchgefickt haben… Meeegageil! Du, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Wir haben bei ihnen das ganze Kindergeld verpisst! Das ganze Kindergeld — in einer Nacht! Du, Fönschwatz! In nur einer Nacht — alles verpisst! Wir kommen ja von der Neustadt — und los — sofort in die Leiterstrasse. Und dort wohnst du auch, du!.. Fönschwatz!“

Ich grinste. Ich zeigte ihm meine Zähne und sagte sachlich und kühl:

„Nun, gut… Okay, Yurets: Ich weiss schon Bescheid…“

Für einen Augenblick verspannten sich alle drei und verstummten. 

Nach einer Pause sagte Anekdot leise und verschwörerisch zu Yurets:

— „Siehst du, Bruder! Der Fönschwatz weiss schon Bescheid! 

— Also ist er definitiv ein Fönschwatz!“

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Prolog. Der Junge Leninist

Zum ersten Mal erfuhr ich über das Phänomen „Die Nutte“ aus der Zeitung „Der Junge Leninist“. Ich war acht Jahre alt und ging in die zweite Klasse der Grundschule in der UdSSR. Unsere Grundschullehrerin Vladislava Ignatyevna bestand darauf, dass die ganze Klasse die Zeitung „Der Junge Leninist“ las. 

Wir schrieben das Jahr 1990. Die Sowjetunion stand kurz vor dem Zusammenbruch und das Pionier-Bulletin „Der Junge Leninist“ war pädagogischer Natur und wurde für die Mittelschule herausgegeben. In unserer Grundschule waren wir noch keine Pioniere, sondern wir hiessen „Oktjabrjata“, Oktoberkinder. Gemeint waren damit die Kinder der Oktoberrevolution von 1917, die Vorstufe zu Pionieren. Der Pioniertitel sollte erst in der 5. Klasse der Mittelschule uns vergeben werden. Dazu kam es nie. Doch Vladislava Ignatyevna, die mir Zählen, Lesen und Schreiben beigebracht hatte, glaubte, dass diese Zeitung auch für Oktober- Kinder gut geeignet sei, da sie über „sehr grosse Entwicklungsfunktion“ verfüge.

Ein Artikel in der Zeitung „Der Junge Leninist“ wurde im postsowjetischen Ton verfasst und zielte darauf ab, „die junge Generation von guten, edlen und korrekten sowjetischen Werten zu überzeugen“. Dieser Artikel hiess „ Julia’s
moralischer Sturz“ und beschrieb eben den „moralischen Sturz“eines
jungen Mädchens, das eine „bewusste Bürgerin und ein Komsomol-Mitglied werden könnte“, wenn es nicht einen bestimmten jungen Mann, einen
„Spekulanten und Betrüger“
treffen würde, der sie „zur Ausschweifung
anstiftete, anstatt ins College zu gehen“
. Dieser junge Mann wurde von ihr als „gross, gutaussehend und sportlich“ beschrieben und im Artikel stand, dass er „viele Freunde hatte“ und dass er „auch die ganze Stadt kannte“, in der diese Geschichte spielte. Er gab Julia die Idee „in kürzester Zeit hohe Einnahmen, ohne sichtbare Anstrengungen zu erwirtschaften“. Die Heldin glaubte ihm und unternahm diese Arbeit. Dann kam die Vergeltungsstunde in Form der Ablehnung durch ihre Familie und beste Freundin. Die Leute „betrachteten Julia als Schande. Das Mädchen geriet in Verzweiflung, landete im Spital und blieb für immer einsam“. Der Rest der Vergeltung und eine schreckliche Bestrafung wurden detailliert geschildert.

Vladislava Ignatyevna bestand darauf, dass wir in der Zeitung „Der Junge
Leninist“
, wenn möglich, alles von vorne bis hinten lesen, aber auch immer darüber reflektieren, was wir lesen. Deshalb dachte ich immer nach dem Lesen fleissig darüber nach. Der Grund für die Nachdenklichkeit war, dass ich im Alter von acht Jahren überhaupt nicht verstand, was genau als „moralischer Sturz“ mit der anschliessenden Einsamkeit dieses Mädchens gemeint war, und auf welche Weise sie dieses ganze Geld „ohne sichtbaren Anstrengungen und in kürzester Zeit“ verdiente.

Beim Abendessen — wir hatten wie immer Bratkartoffeln zum Abendessen — fragte Papa, warum ich so nachdenklich wirke. Ich antwortete, dass ich über einen Artikel nachdenke, den ich in der Zeitung „Der Junge Leninist“ gelesen hatte, aber ich verstand es nicht. Mama fragte etwas vorsichtig, worum es denn genau in diesem Artikel gehe und was genau nicht klar sei. Ich sagte, dass es in dem Artikel um den „moralischen Sturz eines Mädchens namens Julia“ ging, und dass ich im Grunde genommen alles verstand, aber eines mir gar nicht klar wurde: Wie konnte diese Julia so schnell und einfach so viel Geld verdienen? Was genau hat sie denn getan? Und für welchen ihren moralischen Sturz“ wurde sie bezahlt?

Es herrschte Stille. Plötzlich lachte Papa laut auf, stand vom Tisch auf und nahm sich etwas mehr Bratkartoffeln. Mama schien — im Gegenteil — erstarrt zu sein. Ihr verblüffter und verängstigter Gesichtsausdruck machte mir Angst. Anscheinend hatte sie das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Mama schwieg und es verwirrte mich. Papa stand wieder vom Tisch auf und sagte aus irgendeinem Grund, dass dies alles eine gute Gelegenheit sei sto gramm, Einhundert Gramm, zu trinken. Er ging ins Wohnzimmer, brachte eine Flasche Cognac und goss sich einen Haufen ein. Mein Papa trank Alkohol sehr selten, im Gegensatz zu den Gewohnheiten meines Heimatlandes. Mama hingegen schwieg weiter und wurde mit der Zeit immer düsterer. So wurde mir klar, dass ein „moralischer Sturz“ etwas sehr schlechtes sein könnte, aber gleichzeitig ein riesiges Geheimnis. Etwas, was man im Familienkreis nicht gerne am Tisch bespricht.

Ich erinnere mich, dass ich immer wieder die selbe Frage stellte: Wie genau hat dieses Mädchen denn ihr Geld verdient? Immer und immer wieder. Ich
erhielt jedoch nie eine Antwort. Papa versuchte es auszulachen und Mama versuchte das Thema zu wechseln. Einmal sagte Mama:

„Du musst nicht alles glauben, was heute in der Zeitung steht. Vieles ist einfach frei erfunden, um ein kaputtes Land irgendwie zusammen zu halten.“ 

Ich gab nicht auf. Seit meiner Kindheit war ich extrem neugierig und wollte alles bis zum Ende wissen und verstehen, auch wenn es frei erfunden war. Schliesslich sagte Papa, ziemlich gereizt:

„Frage doch Vladislava Ignatyevna! Sie hat ja darauf bestanden, dass ihr diese blöde Zeitung von Anfang bis zum Ende liest! „Der Junge Leninist!“ Alles nur Schein, kein Sein! In diesem Land gibt es doch keine junge Leninisten! Die Menschen hier sind alle gleich verwirrt! Und gleich verloren!“

Er goss sich noch etwas Cognac und wiederholte:

„Wenn es dich wirklich interessiert, frage doch Vladislava! Und nicht uns!“ Mama sagte aufgeregt:

„Oh, nein! Nein, nein! Frage Vladislava lieber nichts! Auf keinen Fall! Es ist nicht nötig!“ 

Durch diese emotionale Reaktion klärte sich, dass es wirklich besser ist Vladislava nicht zu fragen.

Als dann Gäste zu uns kamen — normalerweise die Freunde von Papa, da Mama fast keine Freunde hatte und sich für unsere kleine Wohnung schämte — erzählte Papa ihnen jedes Mal diese Geschichte, wie ein Witz, in etwa so:

„Stellt euch das nur vor! Der Kleine las einen Artikel in der Zeitung, über den „moralischen Sturz“ eines Mädchens, Julias. Dann erzählte er uns beim Abendessen, dass er alles verstand, ausser, wie Julia so schnell so viel Geld verdiente!“

Papa lachte übertrieben herzlich. Er würgte fast vor Lachen, so dass die Gäste sich unfreiwillig mit seiner Begeisterung ansteckten und zu lachen anfingen. Ich fühlte mich die ganze Zeit wie ein Vollidiot. Ich dachte, dass Erwachsene über meine Dummheit und Unwissenheit lachten. Das dauerte eine ganze Weile, bis Papa diesen merkwürdigen Vorfall ganz vergass. Mama war hingegen grimmig, wobei sie gleichzeitig lächelte, aber nur kurz und ziemlich traurig. Es war ihr irgendwie peinlich. Aber niemand sagte mir etwas über das Wesen dieses Phänomens, „moralischer Sturz“. Ich, der Kleine, verblieb in völliger Unwissenheit und fühlte mich in Bezug auf dieses Phänomen als völlig daneben.

Erst drei Jahre später, im Jahr 1993, als es die Sowjetunion nicht mehr gab, erfuhr ich versehentlich, was es mit diesem Mädchen für eine Bewandtnis auf sich hatte. Mein Nachbar Andrej erwähnte einmal in Verbindung mit einem anderen, einem sehr schönen Mädchen und einer ausgezeichneten Schülerin aus unserer Schule, das Wort „die Nutte“

„Diese Nutte scheint abends sich zu prostituieren“, sagte Andrej und fuhr fort: 

„Vor dem neuen Hotel „Ukraine“. Gegen US-Dollars. Das fremde Geld.“

Selbst dann verstand ich nicht wirklich, was Andrej meinte, und was sie tat. Aber er erklärte es mir dann schon sehr genau und ziemlich ausführlich. Ich war 11 Jahre alt. Dann erinnerte ich mich an den „Jungen Leninist“ und an den „grossen und gut aussehenden Typen, den Sportler“, der „viele Freunde hatte und die ganze Stadt kannte“, undan den „moralischen Sturz“. Diese schöne Schülerin gefiel mir schon lange sehr sehr gut. Ich war sogar heimlich in sie verliebt, obwohl ich nie mit ihr gesprochen hatte. Das Phänomen die Nutte färbte somit für mich in mehr als nur positive Töne.

Aber in meinem Buch geht es nicht um die positive oder die negative Töne. 

Mein Buch ist weder moralisch noch unmoralisch.

In meinem Buch geht es um die Nutten.

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Die Nutten

Das „Nuttenprojekt“ untersucht die Diversität der Biographien von Prostituierten.

Das Buch „Die Nutten“ besteht aus 24 Porträts, wobei es sich bei allen Models um echte Frauen handelt: zufällige Bekannte, Kolleginnen, Freundinnen und Ehefrauen des Autors. Die Portraits sind im Rohform auf Russisch bereits geschrieben, ein Manuskript von 172 Seiten liegt vor. Der Begriff „Nutte“ wird sehr weit gefasst: von der Strassennutte zur High Class Escort Lady, von einer tantrischen Masseurin zur Nymphomanin, vom Elite-Model zum Gangbang-Girl. 

Alle im Buch beschriebenen Frauen haben ihre eigenen Biografien, spezielle Schicksale, ganz persönliche Motive und Werte, die durchaus respektiert werden müssen.

Das Buch enthält einen Prolog, der den Erzähler im Alter von acht Jahren beschreibt, als er der Thematik der Prostitution in Form einer fiktiven Figur in einer sowjetischen Zeitung zum ersten Mal begegnete. Es gibt einen Epilog, in dem er sich als reifer Mann die Frage stellt, ob es vermeidbar gewesen wäre, diesen Frauen ihre Rolle als Nutten zu zuschreiben, und was genau die Ideologie des Neoliberalismus und des falschen „Feminismus“ heute dieser Rollenzuschreibung entgegensetzen könnten? 

Am Ende stellt sich die Frage nach den Grenzen des Begriffs „Nutte“. Diese Fragen implizieren neue Fragen — nach der Definition der „Arbeit“ und nach der Möglichkeit einer klaren Unterscheidung zwischen „Geschäft“ und „Privatleben“.

Gibt es zum Beispiel für den Mann einen Unterschied zwischen einer Frau, die jeden Abend Männer in einer Bar verführt, um dann mit ihnen in einem Vier-Sterne-Hotelzimmer, das diese Männer bezahlen, kostenlos Sex zu haben, und der Frau, die ungefähr soviel Geld für Sex verlangt, wie ein Zimmer in einem Vier-Sterne-Hotel kostet, aber die gesamte Aktion in ihrer Wohnung stattfinden lässt?

Alle Geschichten basieren auf realen Ereignissen. Darüber hinaus spiegeln die 24 Porträts den Autor selbst als „männliche Hauptnutte“ wider. Wenn der Autor also Porträts von Prostituierten schreibt, reproduziert er ein Selbstporträt.

Als intermediales, interdisziplinäres und internationales Kunstprojekt verweist der Roman „Die Nutten“ über die üblichen ethischen, diskursiven und semantischen Kategorien hinaus. Die künstlerische Arbeit wird auf drei Ebenen realisiert: textuell, visuell und auf der Ebene der Gerüche. Darüber hinaus ist geplant, das Projekt sowohl in einem „einfachen“ wie auch in einem „exklusiven“ Format umzusetzen. Ein einfaches Format (Auflage von x tausend Exemplaren) enthält ausschliesslich den Text. Das exklusive Format enthält einen einzigartigen handgeschriebenen Text in scharlachroter Tinte auf dünnem Transparentpapier und 25 einzigartige Illustrationen für jedes Kapitel. Das exklusive Format enthält ausserdem 25 verschiedene von einer Parfum-Designerin kreierte Designdüfte, die als „duftende Porträts“ fungieren.

Ziel des Projektes ist ein differenzierter Umgang mit Prostituierten als Individuen. Im Idealfall erkennen der Leser, der Betrachter und der Riecher in allen Porträts, dass hinter jeder Frau, die im kollektiven Bewusstsein wie eine Hure behandelt wird, ein einzigartiges menschliches Schicksal steckt — mit seinen Höhen und Tiefen und spezifischen Merkmalen, worin gerade auch ein einzigartiges menschliches Leben abgebildet ist.

Die mit Tinte äusserst gewissenhaft und mit vielen kleinen Details gezeichneten Porträts oder „Mikrogramme“ eines russischen Künstlers verfolgen dasselbe Ziel wie die Aromaöle, die auf jede der 24 Nutten als einzigartige Komposition zugeschnitten werden: sie verstärken die Wahrnehmung ihrer besonderen Persönlichkeiten. Aber es gibt auch ein gemeinsames Element, das in allen 25 Designparfums enthalten ist — dies ist ein Samentropfen des Autors Elias Kirsche.

Jedes dieser duftenden Porträts soll in einer Originalflasche präsentiert werden, in die der Besucher oder der Betrachter einen speziellen Tester in Form eines Horns absenken kann. 

Die Präsentation der Porträts findet im Dunkeln statt. Es ist jedoch geplant, Illustrationen, handschriftliche Texte und Duftporträts in Flaschen mit rotem Licht von 24 Spot-Lampen beleuchten zu lassen.

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Das Geheimspiel

Nach dem Mittagessen ist im Kindergarten immer Siesta. Während der Siesta kann und will er nicht schlafen, weil er sich von drei Erzieherinnen beobachtet fühlt. Er muss aber schlafen, ähnlich wie er das Weissbrot essen muss

„Wie kann man nur mitten am Tag, wenn es hell ist, in einem Raum mit 39 anderen Kindern unter Kontrolle einschlafen?“, fragt er sich als eine Erzieherin ihm falsch und zu laut ein Schlaflied zu singen versucht. Während der Siesta tut er nur so, als ob er schläft. Tatsächlich langweilt er sich. Um die Schlafzeit totzuschlagen, zieht er heimlich unter der Decke seine Unterhose aus und spielt mit seinem Organ ein Spiel. Manchmal schaut er dabei das Gesicht von Lenin an, das über seinem Bett hängt. Oder er fragt sich, was Prinz William gerade tut. Sein Organ wird grösser und juckt angenehm. Dieses Spiel ist sein Geheimspiel. Niemand weiss etwas davon. Nur er weiss es. 

Sein Tagesablauf ist immer gleich und wird vom Spielen bestimmt: Zuerst die Spielzeit mit anderen Kinder draussen. Zu dieser Zeit steht er still vor dem Drahtzaun und beobachtet neidisch durch karierte Drähte „freie“ Passanten. Danach – die Spielstunden drinnen, die er entweder nicht versteht oder wo er nicht gut ist. Danach – das Geheimspiel mit seinem Organ, unter der Decke. Dazwischen – die Essenszeiten, während dessen er das Essen, das ihm nicht schmeckt, möglichst zu schlucken versucht, ohne zu kauen. Bis heute ist es ihm immer gut gelungen, während er so tat, als ob er schlief, sein Geheimspiel zu spielen, ohne dass er von den Erzieherinnen jemals entdeckt wurde. Da er sich im Kindergarten fremd fühlt, ist sein Geheimspiel die einzige Tröstung.

Heute ist alles anders. Nachdem er unter der Drohung des Chefkoches das Weissbrot mit der Erbsensuppe gegessen hat, spürt er starke Bauchschmerzen. Er ignoriert sie und versucht, indem er so tut, als ob er schläft, sich auf sein Geheimspiel zu konzentrieren. Es gelingt ihm aber nicht, weil zu den Bauchschmerzen plötzlich noch Stuhldrang dazu kommt. Er muss, und zwar – sofort. Er springt auf und läuft in Richtung Toilette, ohne zu überlegen, ohne die Unterhose anzuziehen. Nackt. Eine der Erzieherinnen bemerkt es, steht auf und gibt einen lauten Schrei vor sich.

„Aaah!!! Illiaaah!“

„Wahrscheinlich hat sie ein Kind noch nie nackt gesehen…“, denkt er, während er noch schneller weiter läuft.

Alle anderen Kinder werden sofort wach. Bevor aber jemand zu handeln beginnt, verschwindet er in einer Toilettenkabine. Er verriegelt die Tür hinter sich. Er hat es geschafft.

Kaum erledigt er sein Geschäft, klopft eine Erzieherin an der Tür. Er sitzt still, atmet nicht und bewegt sich nicht.„Mach so-fort auf!“, schreit die Erzieherin. Das ist die gleiche, die schon am Anfang geschrien hat.

 Er sitzt still, atmet nicht und bewegt sich nicht. Er schaut auf die Tür. Die Tür ist aus Plastik, dünn und weiss.

„Mach so-fort auf!!“

Die Stimme der Erzieherin wird noch lauter, und noch dringender.

„Mach so-fort auf, habe ich gesagt!!!“

Nachdem sie das Schloss anschlägt, mit der deutlichen Absicht, es aufzubrechen, antwortet er:

„E, E, Entschuldigen Sie… Ich bin aber noch nicht fe, fe, fertig!“

„Das ist mir egal!!“, schreit die Erzieherin und wird hysterisch.

„Du darfst nicht einfach nackt durch die Gegend rumlaufen!!! Das ist bei uns striktens verboten!!! Haben deine Eltern es dir nicht beigebracht!!!“

Er versucht, sich zu erinnern. Er kann sich nicht daran erinnern. Doch diese Frage bedarf eine Antwort, möglichst schnell:

„Doch… nein…“

„Nein?!! Das kann gar nicht wahr sein!!! Mach so-fort die Tür auf und zieh so-fort deine Unterhose an!! Sonst werde ich die Tür aufbrechen!!! Und den Kindergartenleiter holen!! Dann bestrafen wir dich!!!“

Bestrafen.

Und tatsächlich: Er hört hinter der Tür die Stimmen. Die Stimmen von zwei anderen Erzieherinnen. Und die Stimmen der anderen Kinder. 

Er steht auf, öffnet vorsichtig das Schloss und schaut durch einen kleinen Spalt hindurch. Er sieht die Erzieherin. Sie steht da, mit seiner Unterhose in der Hand. Hinter ihr stehen noch zwei andere Erzieherinnen. Hinter ihnen die Kinder. 39 Kinder. Hinter ihnen hängt ein Lenin-Portrait. Ganz alleine.

Die Erzieherin streckt ihm seine Unterhose durch den Spalt.

„Ziehe die Unterhose an!!! So-fort!! Dann darfst du herauskommen!!!“

Die anderen 39 Kinder lachen.
Ab sofort ist er ein Verbannter.
Ein Allerweltsnarr.
Ein ganz fremder.

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Die Gesellschaftskunde

In der Gesellschaftskunde lernen alle Kinder, wie man Weissbrot produziert und warum es in der russischen Sprache das Sprichwort „Brot ist allen Dingen das Haupt“ gibt. Weil Brot für das menschliche Leben halt sehr wichtig ist. Weil man jeden Tag Weissbrot isst. Nein, weil man jeden Tag Weissbrot essen muss. Vor allem Kinder! Alle Kinder müssen jeden Tag Weissbrot essen. Aber bevor das Weissbrot zum Weissbrot wird, hat es einen langen Weg vor sich. Kinder können sich das noch gar nicht vorstellen, weil Kinder Weissbrot nur in seiner alltäglichen Erscheinungsform kennen. Als Weissbrot auf dem Regal im Lebensmittelgeschäft. Wo es jeder für nur zweiundzwanzig Kopeken einkaufen kann. Die kleinen Kinder haben einfach noch gar keine Ahnung, wie lang der Weg tatsächlich ist… Und diesen Weg erklärt sie, die Erzieherin, den Kindern anhand von Bildern. 

Noch bevor die Erzieherin ihre Bilder holt, fühlt er sich schuldig. Schuldig dafür, dass er als Kind keine Ahnung hat, was für einen langen Weg das Weissbrot durchläuft, bevor es zum fertigen Weissbrot wird. Er fühlt sich schuldig, dass er und seine Eltern das Weissbrot im Geschäft so günstig einkaufen. Aber auch dafür, dass er das Weissbrot, dieses teure Gut, täglich isst. Gleichzeitig will er das Weissbrot nicht essen. Nicht wirklich. 

Aber, er muss es essen. Er isst täglich Weissbrot, obwohl er es nicht will, weil er es muss. Und dann fühlt er sich dafür schuldig, dass er es isst.

Mit seinen sieben Jahren versucht er zu begreifen, was „wollen“, „müssen“ und „Schuld“ bedeuten. Und wie diese drei zusammen hängen.
Er begreift es nicht. Die klangvolle fröhliche Stimme der Erzieherin lenkt ihn ab und holt ihn zurück.

Die Erzieherin zeigt den Kindern grelle farbige Bilder, die den langen Weg vom Weizen zum fertigen günstigen Weissbrot für 22 Kopeken beschreiben. Sie zeigt das Bild mit einem Weizenfeld. Und das Bild mit vielen Frauen und Traktoren auf dem Weizenfeld. Alle diese Frauen und Traktoren… – sie alle arbeiten dafür, dass das Weissbrot zum Weissbrot wird, erklärt die Erzieherin. Die Jungs freuen sich, wenn sie viele Traktoren sehen. Sie äussern ihre Freude ganz offen. Sie zeigen mit ihren Zeigefingern auf die Traktoren im Bild. Sie werden laut. Fröhlich laut. Nach dem Gesellschaftskundeunterricht, wenn wieder Spielzeit ist, wird es unter den Jungs einen grossen Streit um den Traktor geben. Um den Spielzeugtraktor. Denn einen Spielzeugtraktor gibt es im Kindergarten nur ein Mal.

Die Erzieherin beruhigt die Jungs, indem sie mit ihrem langen Zeigestab auf den massiven Holztisch schlägt. Es wird sehr laut und gleich wieder sehr still. Dann zeigt sie den Kindern das Bild einer Fabrik mit vielen grossen grauen Maschinen, die Weissbrot produzieren. Und noch eins, mit vielen jungen Männern, die in der Fabrik arbeiten. Es folgt noch ein weiteres solches Bild. Und dann noch eins. Und noch eins. Die Bilder sehen sehr ähnlich aus und zeigen, wie lang der Weg ist. Die Erzieherin erklärt den Kindern monoton, aber ausführlich, die Funktion der Maschinen. Des Fliessbands. Des Backofens. Er kann die Maschinen schlecht voneinander unterscheiden. Es folgt das Bild mit einem LKW, der viele Weissbrote in ein Lebensmittelgeschäft transportiert. Am Steuer des LKWs sitzt ein junger Mann. Er freut sich und winkt den Kindern mit der Hand aus dem Fenster zu. Die Jungs freuen sich, wenn sie den jungen Mann sehen. Sie winken ihm engagiert zurück, sie beneiden ihn. Wenn sie gross sind, wollen sie auch Weissbrot ins Geschäft transportieren.

Die Erzieherin betont, dass auch im Feld, an der Maschine oder am Fliessband zu arbeiten schön und sicher interessant sein kann. Dass „erst die Arbeit von allen Menschen, die Arbeit von Männern und Frauen, den langen Weg zum fertigen günstigen Weissbrot für nur 22 Kopeken ins Geschäft ermöglicht“. Zum Schluss zeigt sie ein Lebensmittelgeschäft und eine lange Menschenschlange vor der Theke. Es ist eine Einkaufsschlange. Alle diese Menschen wollen frisches Weissbrot einkaufen. Hinter der Theke steht eine junge Frau. Die Verkäuferin. Über der Frau hängt ein Lenin-Porträt, wie bei den Kindern im Klassenzimmer. Lenin lächelt die Menschen in der Einkaufsschlange an.

Die Erzieherin sagt, dass jetzt Mittagszeit ist. Und, dass es heute zur Erbsensuppe ein besonders frisches und warmes Weissbrot gibt. Die Erzieherin sagt laut: 

„Guten Appetit!“

Und die Kinder, antworten im Chor: 

„Danke!“.

Als er am Tisch vor der dampfenden Erbsensuppe und einem Stück Weissbrot sitzt, kehrt er zu seiner Überlegung zurück, warum er das Weissbrot jetzt essen muss, obwohl er keinen Hunger verspürt. Obwohl das Weissbrot in Wirklichkeit so teuer, so kostbar und so schwer zu produzieren ist. Alle anderen Kinder sind schon lange fertig mit ihrem Essen. Und je tiefer er ins Grübeln versinkt, je länger er darüber nachdenkt, desto mehr vergeht ihm die Lust aufs Weissbrot. Als der Nachtisch serviert wird, kommt die Erzieherin wieder vorbei und versucht ihn energisch zum Essen zu animieren: 

„Die Suppe kannst du lassen. Aber iss doch wenigstens das Brot! Der Koch hat sich heute doch besonders viel Mühe gegeben!“ 

Er verweigert ihren Befehl und versucht verstohlen, einen Kompromiss zu finden, indem er langsam und widerwillig die kalte Erbsensuppe probiert. Er sagt, dass er kein Weissbrot will. Die Erzieherin versteht ihn nicht. Sie wird wütend. Sie läuft in Richtung Küche. Sie holt aus der Küche den Koch, einen groben, dicken, schwarzhaarigen Mann, der stark nach Schweiss und Knoblauch riecht. Alle Kinder im Kindergarten haben Angst vor dem Koch. Als er plötzlich in seinem weissen Kittel laut eintritt, verschwinden alle Kinder aus dem Raum. Der Koch hält eine riesige Schöpfkelle in der Hand. Die Schöpfkelle ist aus Stahl und glänzt in der Sonne.

Der Koch bedroht ihn mit seiner Schöpfkelle. Er sagt, er wird dem obersten Kindergartenleiter erzählen, „dass es hier im Kindergarten ein spezielles, boshaftes, gemeines Kind gibt, das anders als alle anderen Kinder ist! Das Kind, das das kostbare Weissbrot verweigert!“. Das Weissbrot, das er, der oberste Koch hier, extra für Kinder gebacken hat.

Nun muss er essen. Es hat funktioniert. Mit der Schöpfkelle und der Drohung, dass er sich bald vor dem obersten Kindergartenleiter zu rechtfertigen hat, erzeugt der Koch in ihm Angst. Er isst das Weissbrot, obwohl er es nicht will, obwohl er einen Klumpen im Hals verspürt. Er isst das kostbare Weissbrot und weint. Und er kann es sich nicht erklären, warum er dabei plötzlich weint. Erst als eine Kinderfrau, die den Tisch bedient, merkt, dass er weint, holt sie das Brot und die Suppe von ihm weg. Immerhin hat er eine Hälfte geschafft.

„Danke!“, sagt er zu ihr.

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Die Kunststunde

Im Kunstunterricht im Kindergarten ist er nicht gut.

„Er hält den Pinsel falsch, in der falschen Hand, und benutzt immer wieder falsche Farben…“ sagt die Erzieherin.

„Er malt auch immer wieder falsche Sachen. Nicht das, was alle anderen Kinder malen. Nicht das, was auf der Tafel steht. Kurz – nicht das, was ein Kind malen muss.“ 

„Er ist halt ein spezielles Kind…“ sagt Ana zu der Erzieherin. 

Die Erzieherin schweigt. Sie schaut zur Seite.

Heute malen alle vierzig Kinder ein Bauernmädchen. Das Bauernmädchen muss lange goldene Haare, einen Zopf und blaue Augen haben. Die Erzieherin hat es gerade auf der Tafel gemalt. Das Mädchen an der Tafel trägt ein langes grünes Kleid. Ihre Beine und Füsse sieht man unter dem Kleid nicht. Vierzig Kinder malen fleissig das gleiche Bauernmädchen ab. Sein Bauernmädchen hat plötzlich schwarzes offenes Haar und grüne Augen. Es trägt ein kurzes rotes Kleid. Und es hat Beine und Füsse. Man sieht im Bild ganz klar, dass sein Mädchen Beine und Füsse hat. Und es trägt sogar Schuhe. Stöckelschuhe. Rote Stöckelschuhe. Er hat sich im letzten Moment für diese roten Stöckelschuhe entschieden.

Die Erzieherin geht durch den Raum. Sie wirft einen kurzen Blick auf die Ergebnisse der anderen Kindern. Sie lächelt, schaut zufrieden und bleibt an seinem Tisch stehen. Die Erzieherin: 

„Wer ist denn das?! Ist das denn ein Bauernmädchen?“

Er war nie auf einem Bauernhof. Er hat in seinem bisherigen Leben weder Bauern noch Bauernmädchen gesehen. Er hat Natalia, ein Mädchen aus der Gruppe, gemalt. So, wie sie ist, wenn sie mit Julia spielt. Mit grossen Augen, im Wind flatternden Haaren. Mit einem grossen Mund. Gross, weil sie lacht. Nun… Nun ist er ziemlich verlegen. Er darf ja nicht sagen, dass es Natalia ist, wenn sie mit Julia spielt. Natalia, Julia und andere Kinder – sie werden ihn gleich wegen seiner Freundschaft mit einem Mädchen auslachen. Darum sagt er einfach leise: 

„Nein…“

Und die Erzieherin sagt laut, ohne zu überlegen: 

„Nein?!“

Und dann sagt sie, noch lauter: 

„Es ist kein Bauernmädchen! Es ist eine Pinselei!“

Die Erzieherin konstatiert eine Tatsache. Sie bleibt bei ihm stehen. Sie blickt ihn von oben herab an. Noch weiter oben, über der Tafel, hängt das Lenin-Porträt. Lenin schaut von oben auf die Kinder herab. Lenin lächelt ihn an. Er sieht Lenins Gesicht ganz oben, das Gesicht der Erzieherin über sich. Das Gesicht von Natalia unten, in seinem Bild. Alle drei Gesichter erscheinen ihm flach. Alle drei sind gemalt. Auch das Gesicht der Erzieherin ist flach. Es kommt ihm surreal und wie gemalt vor. 

„Es ist kein Bauernmädchen. Es ist eine Pinselei.“ 

Er kann wohl nichts dagegen sagen.
Alle Kinder gehen aus dem Raum.

Pause. 

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