Kurzgeschichten

Gekreuzte Parallelen

Ich stehe auf dem Bahnsteig am Bahnhof meiner Heimatstadt Bielohorodka in der Nähe von Kiew und lese in der Zeitung:

„Vladimir Putin möchte die russischsprachige Bevölkerung von Donbass schützen, verneint aber die Präsenz von russischen Truppen und schweren Waffen in der Ostukraine. EU, USA und UNO äussern grosses Besorgnis. Inzwischen sind nach inoffiziellen Angaben durch den „Schutz“ von Putin vierzigtausend Menschen im Konflikt gestorben und Hunderttausende haben ihre Arbeit und Häuser verloren.“

Ich überlege, wie mein Leben weiter gehen soll.

Ich steige ein, mein Zug fährt an. Die sogenannten „Diesel“, Regionalzüge von Bielohorodka nach Kiew, fahren selten, im Zweistundentakt. Bielohorodka ist eine Satellitenstadt, fünfzigtausend Einwohner. Die Menschen hier schlafen, essen, ziehen Kinder gross, bauen Gemüse an, vor allem Kartoffeln, die sie ein- oder ausgraben, Jahr für Jahr. Mit ca. sechzig Jahren sterben sie, genauso demütig, wie sie gelebt haben. Viele sterben früher, mit fünfzig Jahren. Zur Arbeit und zum Feiern fahren sie nach Kiew. Wenn ich wegfahre, dann meistens abends, zu einer Vernissage mit dem Linienbus. In der Hauptstadt eröffnet jede Woche eine neue Kunstausstellung. Heute fahre ich ausnahmsweise gegen Mittag und mit dem Zug.

Ich betrachte mein Gesicht im Kosmetikspiegel und stelle fest, dass ich älter aussehe als ich wirklich bin. Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal mit dem Diesel gefahren bin! Vielleicht vier Jahre? Im Sommer 2011, als ich meine letzte Stelle als Grafikerin bei der Redaktion einer russischsprachigen Business-Zeitschrift kündigte. Eine Ewigkeit scheint seither vergangen. Es gibt eine Kluft zwischen damals und heute. Aber der Regionalzug hat sich nicht verändert. Es sind dieselben veraltete Waggons aus der Sowjetzeit, mit fadenscheinigen Sitzen, verrosteten Fensterrahmen und schmutzigen Fenstern. Hinter dem Dreck erkennt man die Landschaft kaum. Dieselben betrübten Passagiere, krank, müde und unglücklich. Dieselben kläglichen Verkäufer, die ihre Kleinigkeiten um jeden Preis loswerden wollen: Pflaster, Zwieback, Süssigkeiten aus dem Vorjahr. Sie gehen immer noch langsam, leicht hinkend an den Sitzreihen vorbei. Sie murmeln monoton denselben Text, den sie als Kinder einst auswendig gelernt haben.

Ich wühle in der Handtasche, hole ein Lippenstift und befeuchte meine trockene Lippen. Mit einem nassen Taschentuch entferne ich etwas Schmutz vom Fensterglas. Jetzt sehe ich endlose armselige Bruchbuden hinter den halbverfaulten grüngrauen Zäunen. Ein Paar renovierte Häuser fallen auf durch ihre Fassaden, die geschmacklose grelle Farbtöne aufweisen. Dazu gehört häufig ein eiserner Zaun und eine runde Satellitenantenne: Die Mittelschicht kann sich gerade die Abgrenzung von der Aussenwelt und bis zu einhundert Fernsehkanäle leisten. Luxus-Villas, die den Neureichen gehören, sieht man aus dem Zugfenster nie. Die grossen, pompösen Paläste darf man nur würdigen, wenn man sie mit einem Geländewagen anfährt. Deshalb fahren alle unsere Politiker Geländewagen. Wie ein Vers aus dem 18. Jahrhundert treffend sagt:

„Es gibt bei uns nur zwei Probleme:
dumme Menschen und schlechte Wege.“

Die Schweizer Regionalzüge sind sauber, warm und bequem. Jetzt fahre ich mit einem solchen Zug von Biel nach St. Blaise. Biel ist eine Stadt mit fünfzigtausend Einwohnern. Von Biel aus erreicht man alle Schweizer Grossstädte sehr schnell. Bis zur Hauptstadt Bern fährt man etwa dreissig Minuten, nach Zürich fünfundsiebzig, nach Basel eine Stunde, nach Genf weniger als neunzig Minuten. In Biel gibt es einen malerischen See, zwei Sandstrände und eine wunderschöne Altstadt mit altertümlichen Häusern und Kirchen. Es gibt in dieser kleinen Stadt zwei Theater, einige Museen und Hochschulen. Im Sommer finden hier diverse Festivals statt. Biel ist eine Kulturstadt und gilt als eine der ärmsten Städte der Schweiz. Nachdem ich im Rahmen von Künstleraustauschprogrammen in Berlin und Zürich gewohnt habe, fand ich die Kunstresidenz in Biel zuerst langweilig. Doch seitdem ich in Biel eine zeitgenössische Galerie entdeckte, erhalte ich dort meine kleine Dosis Sozialleben.

Die schöne Schweizer Landschaft wird durch kein Staubkörnchen getrübt. Der Zug fährt an kleinen Dörfer vorbei, die alle ähnlich aussehen: Moderne Häuser, alle ungefähr gleich gross, mit flachen Dächern und riesigen Panoramafenstern. Es gibt auch alte Villas mit Dachziegeln und Fensterläden. Wenn diese Häuser in zwei Reihen an einem Hügel stehen, assoziiere ich das Bild mit zwei Reihen von gesunden Zähnen, die ein heiteres Lächeln eines glücklichen Menschen bilden.

Ich bin nervös, da ich in Kiew einen ungewöhnlichen Murksauftrag auszuführen habe. Ich muss dreizehn genau gleiche Imitationen eines Gipsornaments an die Decke malen, in einem rosafarbigen Raum, der sieben Ecken und sechs Wände hat, mit allen Zwischentönen und Schatten. Ich muss so präzise und fleissig malen, dass ein Gast, der das rosa Schlafzimmer betritt, den Eindruck bekommt, dass es sich dabei um einen echten, authentischen Stuck aus der Barock-Epoche handelt.

In der Kunstakademie und vorher in der Malschule habe ich eine Menge Gipsporträts gezeichnet. Die Wandmalerei beherrsche ich auch gut. Als Künstlerin musst du einiges können… Aber eine Stuckimitation malen… Das habe ich noch nie gemacht.

Vor zwei Wochen traf ich meinen Auftraggeber. Er zeigte mir Ornamente. Ich fotografierte sie und mass den Raum aus. Zuhause skalierte ich sie, zeichnete am Computer nach und druckte im richtigen Massstab aus. Es waren insgesamt drei Tage Arbeit, von morgens bis abends.

Ich bin nervös, da ich in St. Blaise einen ungewöhnlichen Murksauftrag auszuführen habe. Ich muss einer älteren Frau eine Tantramassage geben. Die Tantramassage ist ein Geburtstagsgeschenk eines ca. sechzigjährigen Mannes an seine Frau, zu ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag. Vor zwei Jahren besuchte ich Tantramassage-Kurse und gab einige Tantramassagen an Männer. Ich hatte  auch erotische Erfahrungen mit Frauen. Aber eine Tantramassage für die Frau… Das habe ich noch nie gemacht. 

Dunkle Erinnerungen an Frauen tauchen auf: Polina, die sich im Bett grober und fordernder verhielt als manche Jungs. Natalie, die sich permanent Sorgen um hygienische Aspekte machte und immer aufpasste, dass unsere Säfte sich nicht vermischten. Sex mit ihr bestand aus flüchtigen Berührungen und „Spritztouren“ dort unten. Mit anderen Mädchen erlebte ich zärtliche Umarmungen, unzweideutige Reibungen mit dem Schambein an Oberschenkel, Nacken- und Zungenküsse. Einmal bewegte mich ein Kollege dazu, eine gemeinsame Freundin mit der Zunge zu liebkosen. In der Regel begegnete ich Mädchen in der Gegenwart eines Mannes, nicht selten mit mehr oder weniger verstecktem Appell, seine Lust zu erregen. Heute wird es auch in der Anwesenheit eines Mannes stattfinden. Vor zwei Wochen bestellte dieser Mann bei mir eine Tantramassage, für sich selbst. Er wollte meine Berührungsqualität zuerst an sich kennenlernen, bevor er mich an seine Ehefrau ranlässt. Es war geplant, dass er mich zu ihnen nach Hause einlädt, damit ich seine Liebste sinnlich verwöhne.

Sie leben bereits zehn Jahre zusammen und lieben sich jeden Tag leidenschaftlich, sagte er. Sie sind ein Leib und eine Seele, sagte er. Es war wunderbar, wie ich berührte, sagte er, darum fahre ich jetzt zu ihnen…

In der Bahnhofsstation „Вокзальна“, in der ich umsteigen muss, verspüre ich wie immer ein Gefühlscocktail aus Hektik, Mitleid und Aversion. Das imposante Bahnhofsgebäude ist heute verfallen, es ist mit Pennern, Bettlern, Alkoholikern und Junkies vollgestopft. Es herrscht hier ein Gestankgemisch aus Schweiss, Urin, Kot, Bier, Wein und Wodka, das, obwohl ich Schnupfen habe, kaum auszuhalten ist. Ich laufe schnell weg, zur Bushaltestelle und nehme ein Trolleybus in Richtung der Kiewer Nationaluniversität. Der Trolleybus ist eine gelbe Rostlaube. Sie bewegt sich langsam, wacklig und laut nach vorne, was mir die Angst um mein Leben macht. Wir fahren durch eine sechsspurige Strasse am Stadion und an Hochhäusern vorbei, die alle eins gemeinsam haben: sie sehen vernachlässigt, schmutzig und verwelkt aus. Nur das Schlossgebäude der Botschaft der Russischen Föderation ist frisch renoviert und von gepanzerten Autos der Beamter umgeben: Fenstergläser mit Spiegelungseffekt glänzen selbst an diesem trüben Herbsttag in sieben Regenbogenfarben. In allen europäischen Hauptstädten vermitteln russische Botschaften einen Eindruck von Majestät und Erhabenheit, ein schamloses Prahlen und Hochstapelei. Man soll denken, dass es in Russland überall so glänzend aussieht. De facto ist es aber ein grosser Irrtum, eine Angeberei, die einem Potemkinschen Dorf ähnelt. Tatsächlich sieht es überall in Russland (ausser vielleicht im Zentrum von Moskau) noch dekadenter und verwahrloster aus, als hier in Kiew.

Um die Villa zu erreichen, in dem meine Auftraggeber wohnen, muss ich eine halbe Stunde lang unter dem Regen über arglistige Pfützen springen. Wenn ich eine kleine trockene Insel nicht treffe, versinken meine Füsse im Schlamm. Als ich endlich am Eingang klingle, sind meine neuen Schuhe kaputt. Der amerikanische Geländewagen steht in der hässlichen Garage daneben. Das Haus wurde im späten neunzehnten Jahrhundert gebaut und gehörte früher der Familie Tereschenko, bekannten ukrainischen Mäzenen. Ihre Bildersammlung aus der damaligen Zeit legte die Basis für das Ukrainische Nationalmuseum der Westeuropäischen Malerei. Den neuen Hausherren treffe ich im Hausflur. Er trägt Pelzpantoffeln und einen hellblauen Pyjama. Wir fahren mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage. Er legt eine Hand um meine Taille und fragt mich, ob ich ein Nacktportrait von ihm malen kann. Er ist ein Kopf kleiner als ich und ziemlich dick. Er ist der Dekan einer etablierten Universität in Kiew. Er glaubt, dass er unwiderstehlich ist. Dabei versucht er, mich in die Brustwarze zu kneifen. Ich wende mich von ihm ab, antworte, dass ich zuerst den Stuck malen muss.

Glücklicherweise sind wir in der Wohnung nicht alleine! Zwei junge Typen verglasen den schicken Balkon mit Eisengussornamenten. Sie machen daraus eine gemütliche Kiste aus Plastik und Plexiglas. Wir trinken Instant-Kaffee und warten auf die Frau des Dekans. Als sie endlich kommt, schaue ich ihr tief in die Augen. Sie ist grösser als ich, blond und hat ein Fuchsgesicht. Die Haare sind sehr kurz geschnitten. Sie trägt einen herrschaftlichen Pelzmantel. Die Wohnung ist das Erbe ihrer Urgrossmutter, der Frau eines wohlhabenden Kaufmannes, sagt sie. Mit dem Mann hat sie einen Ehevertrag: sie bietet die Wohnung, er die Renovation, sagt sie. Er gehorcht ihr voll und ganz, sagt sie. Wenn sie meint „Genauso, wie damals“, dann heisst es für ihn, eben, „genauso, wie damals“, sagt sie. „Aber weit gefehlt!“, denke ich. Wenn die Wände früher die Farbe einer verwelkten aschfarbigen Rose hatten, dann werden sie nun Pink. Grell und aufdringlich Pink. Dabei wollen die Hausherren die Gipsimitation „auch nicht ganz so kontrastreich, wie es damals war“. Die verfügen über eine Farbwahrnehmung!

Mein Schweizer Auftraggeber holt mich mit seinem weissen SLK-Sportcabrio am Bahnhof in St. Blaise ab, obwohl draussen die Sonne scheint und die Fahrt zu ihrem Haus höchstens drei Minuten dauert. Das Haus ist eine Villa mit einem Flachdach und Panoramagläsern statt Wänden. Die Hausherrin begrüsst uns im Flur. Sie ist stilvoll angezogen. Graue, fast silberne Haare, sehr kurz geschnitten. Sie lächelt mich freundlich an und bittet mich hereinzukommen. Die Inneneinrichtung ist schick und modern gestaltet. Die Möbel aus dunklem Holz, bequeme Sessel, Designer-Lampen aus Stahl. Klassik und Moderne ergänzen sich leicht und ungekünstelt. Nicht mal ein Gefühl der Sterilität, der Abiose, das mich so oft überkommt, wenn ich Photos in diversen Katalogen durchblättere. Und der Raum wird auch nicht überladen von lieben, kleinen, herzigen Dingen, von denen es früher oder später einfach viel zu viele gibt. Die Aussicht auf den Lac du Neuchatel ist idyllisch. Neben dem Fenster steht ein Notenpult. Auf einem Couchtisch liegt die Blockflöte. Er veranstaltet manchmal kleine Hauskonzerte für seine Liebste, sagt er. Der Hausherr macht eine kleine Hausführung und zeigt mir ein abstraktes Bild, das sein Bruder gemalt hat. Es gibt eine LCD-Hintergrundbeleuchtung und einige Details setzen sich in Bewegung, wenn man sie anschaltet. Er zeigt mir, wie es funktioniert. Wir stossen mit Champagner an, ehren das Geburtstagskind. Sie sagen, dass sie noch mindestens dreissig Jahren das Zusammenleben zu geniessen planen. Und mindestens fünfzehn Jahren den Sex. Ich freue mich darüber.

Wie viel Bedenken ich auch immer verspüre, ist es jetzt die Zeit zu beginnen. Ich halte meine Drucksachen an der Wand. Ich habe  keine Ahnung, wie ich weiter vorgehen soll! Die Frau des Hausherrn kommt mir zur Hilfe. Vom letzten Mal sind ja Kartonschablonen geblieben, sagt sie. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie Stuck nachmalen, sagt sie. Schablonen und Kurvenlineale liegen irgendwo auf dem Dachboden. Ich atme erleichtert aus. Wenn ich Schablonen nachzeichne, bleibt nur das Ausmalen. Mit einem scharf gespitzten Bleistift, nur leicht berührend, zeichne ich Konturen, der vorgegebenen Bahn folgend. Linien sind lang und fliessend. Ich wiederhole sanfte Kurven, beim Auslauf gibt es immer ein Akzent. Ich male Schnörkel ganz genau nach, Schnörkel, die jemand vor mir von jemandem anderen abmalte, und derjenige auch vor ihm, und der andere auch von irgendwem, von irgendwoher, irgendwann. Es ist eine Imitation der Imitation der Imitation. Es ist wichtig, dass man irgendeine Tradition, irgendeine alte Sitte pflegt. Vielleicht gab es hier früher tatsächlich solche Schnörkel aus Gips. Vielleicht auch nicht. Als das Haus gebaut wurde herrschte in der Architektur die Moderne. Diese Dekoration erinnert aber eher an Barock, das durch überflüssige Affektiertheit und Pompösität gekennzeichnet ist. Das Ornament ist eine Erinnerung ans  18. Jahrhundert, als die Übersättigung des sogenannten Adels Grundlagen für Trends und Stile der Zeit legte. Heute, in einem Haus des 21. Jahrhunderts, sieht es komisch, fast schon sarkastisch aus, wie plakative Kostüme von König und Königin auf dem Quai von Jalta auf der Krim. Kostüme, die Touristen für einen elenden Betrag anziehen dürfen, um ein anderes, adliges Leben anzuprobieren.

Wenn ich male, sitze ich auf dem Laufgerüst, der Rücken stark gekrümmt, direkt unter der Decke. Innerhalb der Kontur male ich alles mit Weiss an. Dann füge ich Zwischentöne hinzu. Wenn die Farbe feucht ist, ist sie grell. Wenn sie trocknet, wird sie heller. Es kommt zu blass an. Ich füge noch eine Schicht dazu. Immer noch blass. Einige Stellen werden heller als nötig, die anderen dunkler. Ich brauche viel Zeit, um den Prozess in Gang zu bringen. Erst am späten Abend nach der Arbeit gönne ich mir einen Spaziergang im Park und eine Kugel Eis.

Ich arbeite zehn Tage lang, vom Morgen bis zum Abend. Am elften Tag, als ich endlich fertig werde, bin ich so müde wie noch nie. Aber ich bin auch froh, weil der Hausherr mir für diese Arbeit drei Hunderterscheine in die Hand drückt. US-Dollar. Das ist zwei Mal mehr als ich im Büro als Grafikerin verdiente, obwohl ich mindestens vierundzwanzig Tage im Monat dort verbrachte. Von diesem Geld kann ich ein Monat lang essen und mich der Kunst widmen. Dazu gibt es eine tolle Umarmung und den Atem des Hausherren, der nach Schweinefleisch mit Knoblauch riecht. Ich wende mich ab und denke, dass ich das Nacktportrait von ihm doch nicht malen will.

Vor der Tantramassage dusche ich, putze die Zähne, creme mich ein. Ich gehe ins sanctum sanctorum, ins eheliche Schlafzimmer, nur in ein Handtuch gehüllt. Die Hausherrin enthüllt sich langsam. Sie trägt schwarze Strapse und Spitzenunterwäsche. Sie hat sich für uns schön gemacht. Mir ist es etwas peinlich. Ich besass nie eine solche Unterwäsche. Ich werfe mein Handtuch schnell weg. Nun stehe ich nackt vor ihr. Im Zimmer herrscht ein orangenes Zwielicht. Meine Klientin ist jetzt auch nackt. Sie legt sich auf den Bauch.Wie viel Bedenken ich auch immer verspüre, ist es jetzt die Zeit zu beginnen. Ich lege mich auf sie, mit meinem ganzen Körper. Ich drücke etwas fester mit den Brüsten. Sie stöhnt leise. Ich setze mich neben sie und fange an. Wenn ich ihren Rücken berühre, zeichne ich Konturen, den vorgegebenen Energiebahnen folgend. Linien sind lang und fliessend. Ich wiederhole sanfte Kurven, beim Auslauf gibt es immer einen Akzent. Die Tantramassage besteht aus einer Sequenz von sanften Streicheleinheiten, die immer genau gleich und in einer bestimmten Reihenfolge wiederholt werden. Davarumi, ein Berliner Tantra-Guru lehrt es so in seinem Tantra-Tempel. Diese Massage hat eine lange Vorgeschichte, behauptet er. Es gibt eine Legende, die besagt, dass die Frauen vor Tausenden Jahren in den Höhlen ihre Männer genauso massiert haben, behauptet er. Es gibt Regeln, Schablonen, ideelle Kurven, behauptet er, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende bewährt haben. 

Ich male Schnörkel ganz genau nach, Schnörkel, die jemand vor mir von jemandem anderen abmalte, und derjenige auch vor ihm, und der andere auch von irgendwem, von irgendwoher, irgendwann. Es ist eine Imitation der Imitation der Imitation. Es ist wichtig, dass man irgendeine Tradition, irgendeine alte Sitte pflegt. Vielleicht gab es tatsächlich solche Berührungssequenzen. Vielleicht auch nicht.

Der Körper der Frau ist ein Sprudel, dessen Flussrichtung ich folge. Ich bewundere die Hautfarbe, die mit heissen Öl befeuchtet ist und glänzt. Ich betrachte sehr aufmerksam jeden Körperteil, jedes Muttermal, jeden Muskel. Ich habe mollige Körper, magere Körper, durchtrainierte, junge und alte Körper gesehen. Alle diese Körper waren bedürftig, allen mangelte es an Liebkosungen und Berührung. Nachdem ich viele Männer gekannt habe, ist es eine Wonne, eine Frau berühren zu dürfen. Ich massiere ihre Füsse, gleite mit meinem Körper über ihren Körper, atme laut.

Ich bitte sie, sich auf den Rücken zu legen. Ich berühre ihre Arme und Hände. Mit einer acht umkreise ich ihre Brüste. Ich kreise mit den Händen um den Bauch und nähere mich langsam der Scham. Ich bedecke sie mit einer Hand, berühre ihre Lippen mit der anderen. In diesem Licht erscheinen ihre Schamlippen aschfarbig. Sie schwellen etwas an und öffnen sich, wie eine Rose. Ich umkreise die Perle, immer Mal wieder, dann wird die Berührung fordernder. Als ich einen Finger einführe und ihn schneller und schneller bewege, wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wie ich weiter vorgehen soll. Die Frau des Hausherren kommt mir zur Hilfe, indem sie tiefer einatmet, stöhnt und ihren Körper stark zittern lässt.

Wir ruhen uns aus, umarmen uns. Ihr Mann kommt zu uns. Er ist nackt. Sein Glied ist steif. Ich verlasse die Frau. Jetzt ist er dran. Er nimmt sie. Ich setze mich in einen Sessel und beobachte. Ihre Vereinigung ist mit einer Freude erfüllt, die ich in Gedanken nur mit einem Wort fassen kann: Glück. Ich schaue auf die Uhr. Es sind erst neunzig Minuten vergangen, seitdem ich hierher gekommen bin. Ich fühle mich gar nicht müde, eher stark energetisiert. Später trinken wir Lindenblütentee auf ihrer riesigen Terrasse. Der Hausherr drückt mir drei Hundertscheine in die Hand. Schweizer Franken. Das ist genauso viel, sogar etwas mehr, als ich damals für meine Stuckimitate im rosafarbigen Schlafzimmer verdiente. Von diesem Geld kann ich hier noch eine Woche leben und mich meiner Kunst widmen.

Ich verabschiede mich höflich, lasse die Eheleute allein. Ich will den Rest des Abends in der Bieler Galerie verbringen. In einer Woche läuft mein Schweizer Visum ab. Nach der Präsentation der Zeichnungen muss ich Biel verlassen und nach Bielohorodka zurückkehren.

Auf dem Rückweg lese ich eine Zeitung. Im Artikel auf der ersten Seite geht es um illegale Ostblock-Prostituierte. Schweizer Feministinnen äussern sich dazu:

„Es handelt sich um böse Menschenrechtsverletzungen und um Menschenhandel. Wir müssen alles tun, um den Missbrauch von osteuropäischen Frauen zu verhindern. Wir müssen sie schützen, indem wir die Prostitution möglichst begrenzen!“, behauptet eine Frauenbeauftragte.“

Eine Frauenbeauftragte. So ein seltsames Wort.  

Wer schützt mich, wenn die Schweizer Feministinnen illegale osteuropäische Prostituierte „schützen“? Vladimir Putin vielleicht? Indem er die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine „schützt“? Indem er den Krieg bis nach Kiew ausweitet?

Ich überlege, wie mein Leben weiter gehen soll.

© Elias Kirsche & Alina Kopytsa
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Die Schachspielerin

Der Anruf ertappt Mistress am Morgen in ihrem Spiel-Studio, kurz nach zehn Uhr. Mistress sitzt gerade rittlings auf dem Bidet und wäscht ihre Pussy. In ihrer Werbeanzeige auf www.creative-eros.com steht weiss auf schwarz, dass es den Kunden erst ab zwölf Uhr gestattet ist, sie zu kontaktieren. Für gewöhnlich nimmt sie gar nicht ab, wenn sie zur frühen Stunde begehrt wird. Dennoch verstösst sie am heutigen Morgen gegen ihre eigene Konvention, steht auf und schafft es knapp, das Handy zu holen. Eine männliche Stimme stellt sich höflich vor. Der potentielle Kunde fragt sie, ob er sie am Nachmittag besuchen kann. Ja, um drei Uhr passt es ihr. Er klingt ruhig und ausgeglichen, mit einer schüchternen Note. Die Schachspielerin nimmt wahr, dass sie sich freut ihm zuzuhören, während sie sich zwischen die Beine greift, um sich vorsichtig mit einem schwarzen Frottiertuch abzutrocknen. In den Jahren der Arbeit als Schachspielerin lernte sie den Ablauf der Partie an der Stimme des Klienten zu ahnen. Wird der Gegenspieler sofort den Kopf verlieren und zur Attacke übergehen, während er die Verteidigung völlig vergisst? Wird er ein starker, aber fahriger Spieler sein, der auf seine Figuren nicht aufpasst? Oder wird er passiv zuschauen, warten und erhoffen, dass der Sieg wie von selbst auf ihn vom Himmel fällt? Am Anfang ihrer Karriere ging Mistress gnadenlos mit schwachen Spielern um. Sie gab ihnen keine einzige Chance zu gewinnen. Nach einigen Partien erschienen solche Männer nicht mehr in ihrer Sichtweite. Mistress hatte keine Ahnung, ob sie Abenteuer mit anderen Schachspielerinnen aufsuchten, oder ob sie das Spiel für immer aufgaben. Mit der Zeit lernte sie den Klienten leicht nachzugeben, indem sie sie geschickt manipulierte. Solche Gäste antworteten mit regelmässigen Spielrunden, was für sie regelmässige Honorare bedeutete. Je mehr Runden sie drehten, desto kleiner war bei Kunden der Wunsch aufzugeben, desto grösser war ihre Hoffnung zu gewinnen, um endlich über ihren heiss begehrten Körper zu verfügen. Das Schachspiel ist ihre alte Leidenschaft, noch seit der Kindheit. Eine Schachpartie war die einzige Möglichkeit, etwas mehr Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Je besser sie spielen wird, desto mehr wird er sie lieben, so dachte die kleine Schachspielerin damals. Dennoch verliess der Vater sie und die Mutter. Zu der Pubertätszeit fingen und endeten fast alle ihre Romanzen auf dem Schachbrett, solange, bis sie Meisterin wurde, und die Männer sich vor ihr zu fürchten begannen. Später, als sie ihre Berufung entdeckte, verwandelte sie sich endgültig in eine zynische Hetäre, die zu Sentimentalitäten kaum fähig war. Stahlberechnung, harte Taktik und trockene Strategie führten sie durch das Geschäftsleben. Misstress steht vor einem riesigen Spiegel, dreht sich um, betrachtet sich narzisstisch von allen Seiten. Ihr Spiegelbild gefällt ihr, ihr Körper ist ein Ehrenpreis. Königliche Haltung, scharfe Augenbrauenlinie, hoher Stirn. Sie ist eine entzückende Brünette, die schwarze Königin. Sie zieht ein kurzes Cocktailkleid an und geht frühstücken. In einem gemütlichen Cafe liest Mistress Luschins Verteidigung von Nabokov nach und löst ein Paar Schachaufgaben. Eine Stunde vor dem Termin kehrt sie zurück, breitet schwarz-weiss karierte Laken aus, zündet mehrere Kerzen an. Sie zieht sich in einen Korsett, Strapse und Reizdessous um. Sie trägt eine freche Schminke auf, zeichnet auf ihren Fingernägel ein schräges Schachornament. Mistress holt ihr Lieblingsschachspiel mit skulpturalen Figuren aus weissem und schwarzen Marmor, stellt sie auf den Schachtisch auf. Punkt um drei Uhr hört sie ein Türklopfen. Auf den ersten Blick sieht der heutige Gegenspieler mittelmässig aus. Eine durchschnittliche Grösse, ein durchschnittliches Alter, der Anzug im durchschnittlichen Preissegment. In einer Menschenmenge könnte sie ihn nicht wiedererkennen. Die einzige Besonderheit des Opponenten – der penetrierende Blick seiner grauen Augen hinter der Brille. Sie lädt ihn in ihr Spielzimmer ein, erklärt lakonisch die Grundlagen der Wette, nennt ihren Preis. Sie nimmt das Couvert mit drei Einhundert-Euroscheinen, bedankt sich bei ihm. Wie immer, spielt Mistress mit Schwarz, indem sie es dem Gegner überlässt, das Debüt zu wählen. Der Gast eröffnet die Partie standardmässig mit e2-e4, danach folgt die sizilianische Verteidigung. Routiniert positioniert der Gegenspieler seine Figuren auf günstigsten Feldern. Mistress konstatiert, dass er sich mit der Theorie auskennt. Seine Gelassenheit und Verhaltensmanier verraten unzweideutig, dass so ein Typ keine spontanen Züge machen wird. Figuren werden lange nicht abgetauscht, die Enge auf dem Spielfeld fühlt sich unerträglich an. Der Klüngel der Möglichkeiten verbirgt in sich eine Menge Verführungen, aber auch Risiko-Faktoren, eine gefährliche Windstille vor dem Sturm. Mistress versteht, dass sie diese Spannung aushalten muss. Dem Gegenspieler eilt es ebenfalls nicht, er will weder opfern noch abtauschen. Er wirft vorsichtige Blicke auf ihre Oberschenkel, schaut ins Dekolleté, rückt etwas näher. Er wartet eine günstige Kombination ab, lässt sich von ihren weiblichen Reizen nicht unterkriegen. Die langbeinige Königin spielt sonst tapfer und verzweigt, die Attacken führt sie dreist und aufmüpfig aus. Ihre Figuren opfert sie mit scheinbarer Leichtigkeit, dafür behält sie immer die Initiative. Aber heute stosst sie auf harten und prallen Widerstand des Gegenspielers, einen Widerstand, der keinen einzigen Riss für ihre beliebte forcierte Attacke zulässt. Nicht in der Lage sich zu beherrschen, schlägt Mistress nervös ein Bein über das andere, nagt an der Unterlippe, bricht ihre Position auf. Nun hat jeder einen Bauern, ein Pferd und einen Läufer weniger. Ihr Opponent öffnet seinen obersten Hemdknopf, zieht seinen Sakko aus, demonstriert das braungebrannte Handgelenk, indem er seine Brille zurechtrückt. Der Gast versucht eine Fünf-Züge-Kombination zu realisieren, indem er seinen zweiten Läufer opfert. Mistress riecht die Taktik des Gegenspielers fast physisch, genauso wie sie den herben Geruch seines Parfums riecht. Seine komplexe Kombination stellt tatsächlich eine Versuchung dar. Falls sie darauf eingeht, wird seinerseits eine aufdringliche Intervention folgen, mit mehreren verzweigten Variationen. Dennoch unterschätzt der grauäugige Stratege die Meisterschaft der schwarzen Queen: sie nimmt seinen Opfer nicht an, drückt ihre Oberschenkel fester zusammen, atmet tief ein und aus. Auf seine Provokation antwortet Mistress mit einer raffinierten Contra-Attacke, sie schiebt den siebten Bauern nach vorne und öffnet ein wenig die Knie. Ihr Herz schlägt stärker, im Becken breitet sich eine angenehme Wärme aus. Ihren Gegner findet sie exzellent. Mit ihm fühlt sie sich brennend lebendig. Sie versucht das leichte Zittern zu halten. Wird er in ihre Falle laufen? Mistress hebt den linken Arm, spielt mit einer schwarzen Strähne, legt eine Achselhöhle frei. Dort hebt sie ihren letzten Trumpf auf: eine Synthese des weiblichen Schweisses mit dem Phäramonparfum. Vor dem Schachspiel spritzt sie sich immer an: falls eine Niederlage droht, wird der Gegenspieler abgelenkt. Heute ist dieser Tag gekommen. Das einwandfreie Spiel des Opponenten untergrabt ihre Festung aus Logik, Intrige und Finesse. Mistress ist fassungslos. Sie spürt, wie die Strategie des Gastes „sie in einen süssen Ozean der Leidenschaft einsaugt“, der Ausdruck aus einem Frauenroman. Das Spiel mit ihm – ein berauschende Mischung aus berechnender Offenheit, heissblütigen Eifer und mentaler Begierde. Es ist eine grauäugige Verlockung, Anfechtung mittels Schachspiels. Mistress‘ Haar ist zerfetzt, durch Make-Up-Schicht schimmert natürliche Röte durch, Schweisstropfen glänzen in der Höhlung ihrer üppigen Brüste. Grauäugiger König (nun spürt sie seine königliche Majestät) findet aus ihren Intrigen immer wieder heraus, er tut es auf eine unglaubliche Art. Gelassen und cool spaziert er am Rande des Abgrunds und lächelt sie dabei noch freundlich an. Ein Geflecht aus Trajektorien, Verbindungen und Bedrohungen zeichnet auf dem Schachfeld erstaunliche Ornamente. Es scheint, dass diese Partie niemals zum Ende geht, so viele Pläne, Erlebnisse und Optionen sind im kurzen Zeitabschnitt versteckt! Mistress‘ Konzentration sinkt und der Gegenspieler nutzt den Augenblick, um zu einem schamlosen Angriff überzugehen. Mit seinem Turm zwingt er die schwarze Dame in die Ecke. Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück, zieht ein Knie an ihre Brust. Nun zeigt sie dem Opponenten völlig unverblümt den ins Perineum eingeschnittenen nassen, durchsichtigen Streifen ihres Slips. Ihre Uhr tickt erbarmungslos. Im letzten Moment bemerkt sie eine geniale Möglichkeit, aus der Peitsche doch noch rauszukommen. Dennoch verzichtet sie bewusst auf den Gewinn und lässt die Dame verklemmt in der Ecke auf dem schwarzen Feld stehen. Mistress gibt die Partie auf, gibt sich ihm hin, gestattet es ihm, sie Matt zu setzen. Die Schachspielerin beugt sich mit dem Oberkörper über den Schachtisch. Der grauäugige König steht auf, rückt von hinten heran und gewinnt sie. Dabei beobachtet er lächelnd, wie seine schwarze Königin fällt. © Alina Kopytsa & Elias Kirsche

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Ecce Homo ?

Für Lisa

Dein Moschus –

mein Muskel –

Es ist so einfach –

Bis zum Morgen

zusammen sein.

Aber ich will nicht mehr

der Mann sein,

Aber

ich will nicht mehr.

Das ist so

einfach –

Ich will sein,

Nur noch sein.

 (Ilya Kormiltsev, 1986)

Er war kerngesund und lebenshungrig als er in eine verarmte provinzielle Familie hineingeboren wurde. Aufgewachsen im Grenzgebiet am Hafen wurde er schnell reif, stiess sich die Hörner ab. Männer bezeichneten ihn als adlig und ritterlich. Sie respektierten ihn und behandelten ihn wie einen Helden. Frauen meinten, er sei heissblütig und grossmütig. Sie wurden feucht und schwach, wenn er in die Nähe kam und ihre Silhouetten mit seinem direkten Blick penetrierte. Sein starker muskulöser Körper, glanzvolles Haar und grüne Augen faszinierten die jungen Schönheiten. Seine Aura, Ausstrahlung und Pose gaben zu erkennen, dass er existentielle Schmerzen und schicksalhafte Bitternisse ertragen kann. Die älteren Damen wurden verzaubert, gerade entzückt, wenn er – der leichtsinnige Dandy – ihnen über den Weg lief. Seine Stimme klang herrisch, aber verführerisch. Die arrogante Haltung, fürstlicher Gang und tiefer wissender Blick vermittelten stumme Ekstase und fesselte Pilgerinnen und Sucherinnen.

In der Jugendzeit ging er wandern. Er verließ angestammte Pfade, gab seinem Trieb nach, kehrte nicht mehr zurück nach Hause. Die Nachbarn klatschten als er die Flucht wagte, hofften, dass Wachhunde ihn an der Grenze gejagt und gefressen hatten. In Wirklichkeit folgte er nur dem Weibchengeruch: blutjunge Kätzchen, jugendliche, reife. Ihre graziösen Gestalten, ihr eleganter Lauf trieben ihn in den Wahnsinn, machten ihn wild. Er hatte vor niemandem Angst, lebte einfach, mischte sich in Prügeleien mit Rivalen ein. Er gewann, nahm die Beute von hinten, stöhnte hysterisch. Er liess sich nicht mehr durch Vernunft leiten, nur noch durch Gespür und Erektion. Der Instinkt führte ihn durch das Leben, Pheromone galten ihm als Wegweiser.

Seine natürliche Leidenschaft zeichnete sich durch Spontanität aus. Sie bereitete ihm Sorgen, aber verhalf auch zu höchstem Genuss. Haus, Familie, klägliches Supermarkt-Essen – die Alltagsprosa, die ihm schon als Kind bekannt war… – das war nichts für sein spielerisches Gemüt. Im Gegenteil: er war der Herrenlosigkeit, der Strasse, der Naturgewalt gewachsen. Er schätzte seine nomadische Freiheit, schwärmte vom weissen Schnee im Winter, vom rostbraunen Dreck im Herbst. Dabei gelang es ihm, sich sauber zu halten. Geplänkel mit Feinden, Bacchanalen mit Geliebten: all die ungezähmte Zügellosigkeit eines Lustmolches vergrößerten nur seinem Charme. Er wanderte ewig, ein Mal schlicht er sogar über die Grenze. Dennoch kehrte er zurück, und irgendwann war er erschöpft. Er schmiegte sich an eine nasse Bank und schlief.

Sie stammte aus einer guten, sogar sehr guten Familie. Der Vater – ein weicher Liberaler, ein Lektor im Verlag, die Mutter – eine strenge Russischlehrerin. Mit Fünfzehn spross sie zu einer langbeinigen Mieze. Ihr Charakter – die Bestie, ihr Aussehen – steiler Zahn, ihre Lebenseinstellung – der Nihilismus. Die Brüste – zwei reife Nektarinen, der Hintern – eine volle Aprikose. Als sie siebzehn war wurde das alte Regime gestürzt. Das Land rollte auf einen anarchischen Abgrund zu. Wilde Lust wuchs in ihr unbändig, gepaart mit rebellierendem Geist. Sie studierte an der Kunstakademie, dichtete experimentell, spielte Cello. Nach den Ästhetik-Vorlesungen ging sie auf die Abenteuersuche los. Sie wollte nicht bei den Eltern übernachten, sondern das Leben auskosten. Männer schmecken. Zaubertränke und verbotene Stoffe degustieren. Allmählich machte sie sich vertraut. Sie degustierte das Leben, sich selbst, ihre zufällige Beischläfer. Sie war neugierig, ob sie auf der Messerklinge Burlesque tanzen kann. Ob ihr scharfer Sinn fürs Gleichgewicht nicht versagt.

Ein interessantes Leben bedeutete für sie ein Leben zum Trotz, eine leichtsinnliche Überlebenskunst, dem überlebensgesetz zuwider. Eine Existenz im Namen der Lust, unentwegt. Sie wechselte Betten im Takt mit den Unterhosen, ging an nichts vorbei. Erreichte eine vierstellige Zahl ohne mit dem Wimper zu zucken. Danach fing die Libertinage an, dämonische Synthese aus Gewalt und Begehren. Die Euphorie wechselte sich mit Verzweiflung ab, Manien mit Depressionen. Ihr Nervensystem tat weh.

Als sie Fünfundzwanzig wurde, schlug sie in ein anderes Extrem um. Sie beschloss Drogen und Unzucht so viel wie es ging zu reduzieren. Fast schon stoisch liess sie nur noch selten jemanden in sie eindringen, nur, wenn es sehr juckte. Nun durfte niemand mehr nachts bei ihr schlafen, sie befürchtete am Morgen einmal mehr nicht widerstehen zu können. Die Morgenlustgymnastik ersetzte sie durch den Sport: Tanzen, Schwimmen, Reiten, um sich von Anspannungen zu befreien und die Entzugserscheinungen zu vermeiden. Dennoch funktionierte es nicht ganz glatt. Die Lust sammelte sich in ihrem Körper an. Sie wurde eitel, streng und gereizt. Sie geilte sich an der eigenen Unerreichbarkeit an.

„Wozu all diese Sublimabstinenz?“ vernahm sie ihre innere Stimme.

„Um den Roman zu verfassen“, antwortete sie.

Nur noch den Roman. Aber auch, um schlanker zu wirken. Um begehrenswerter in Augen der Männchen zu erscheinen.

Sie war ambitioniert, diszipliniert, fleissig. Arbeitete und hielt sich zurück, ohne sich abzulenken. Wurde immer dünner, immer ungeselliger.

„Menschen mag ich nicht so sehr“, wiederholte sie.

Ihr Roman bekam zu dieser Zeit die ersten unklaren Konturen.

Sie lernten sich zufällig kennen. Sie fand ihn am Bahnhof. Er döste friedlich auf dem kalten Fliesenboden. Sie kniete vor ihm nieder, berührte seine Nasenspitze. Sie weckte ihn auf. Er starrte ihre Augen an: weit geöffnete, grau-blaue, nachgezeichnet mit einem schmalen schwarzen Strich.

Sie wagten es zusammen: komme, was da wolle. Sie zähmte ihn, lud ihn ein, gab ihm zu essen.

„Fühle dich wie Zuhause“, sagte sie. „Sei einfach da“.

Sie forderte nichts als Entgelt. Sie erwartete nichts. Dennoch durfte es keine Nähe zwischen ihnen geben. Alles, was zwei miteinander treiben könnten, langweilte sie. Im Internet las sie über Cuckolds – einer innovativen Beziehungsform, bei der sie sich mit anderen Männern exzessiv auslebte während sie ihn keusch hielt. Die Vorstellung reizte sie sehr. Eines Abends streichelte sie zärtlich seinen Kopf:

„Mein Schatz… Einmal im Monat brauche ich einen fremden Schwanz. Einen Schwanz, der gross und hart ist. Ich habe ihn nötig“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Nein, nicht für sehr lange. Nur für ein paar Stunden. Duldest du das?“

Er betrachtete die eigene winzige Spiegelung in erweiterten Pupillen ihrer Augen und nickte schweigend. Er liess es zu, wurde zum Cuckold erzogen. Es war aber unerträglich. Solange in ihrem Bett etwas geschah, was einem Kind als Kampf vorkommt, fand er keine Ruhe mehr. Er wimmerte leise, danach immer lauter, das Weinen wurde allmählich zum Gebrüll. Er warf sich aus einer Ecke ihrer kleinen Küche in die andere, donnerte mit Töpfen, zerbrach Gläser. Er wusste nicht, wie er seinen natürlichen Protest sonst noch ausdrücken konnte. Wenn auch müde, gealtert und niedergeschlagen, konnte er auf das Wichtigste und das Schönste im Leben nicht verzichten. Umso mehr, wenn das begehrte Weibchen in seiner Nähe war. Ein saftiges Mädel, das – obwohl selten – sich regelmässig und bis zur Erschöpfung von fremden Männern durchbohren liess.

Die Eifersucht, gemischt mit wildem Verlangen, brannte von innen. Sein angespanntes Organ schmerzte. Er war tagtäglich und nachtnächtlich angeschwollen. Er rieb seinen Körper stundenlang an raue Oberflächen, begoss Decken, Wände und Boden mit Samen. Er suchte einen Ausweg, fand aber keinen. Es gab keinen Ausweg für ihn.

Er hörte nicht auf zu leiden auch als es vorbei war. Er heulte und johlte, wenn er mit vom Wahnsinn geröteten Augen die glanzlose Landschaft hinter dem Fensterglas anstarrte. Sie reagierte depressiv und mit Verdrängung. Spermaflecken überall ärgerten sie. In Ihrer Wohnung stank es brünstig. Irgendwann könnte sie weder seinen noch ihren eigenen Lustgeruch ertragen. Sein ungestilltes Verlangen und sein Schreien lenkte sie von der Schreiberei stark ab.

„Halt endlich die Fresse!“ brüllte sie bissig auf. Er fauchte sie laut an und warf sich auf sie. Klammerte an ihrer nackten Brust, biss fest in ihre Brustwarze. Sie spannte sich an. Entspannte sich wieder. Versuchte seine abrupte Geste als erotische Regung zu deuten. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. Dennoch zerkratzte er nur blutig ihren Nacken und ihr Gesicht, indem er nervös knurrte und spitze Zähne zeigte. Dann sammelte sie Kraft und wand sich heraus, weg von seinem haarigen Leib. Sie war entrüstet, konnte lange weder lesen noch schreiben. Die giftigen Kratzwunden verheilten nicht. Die Zeit brachte auch keine Heilung. Nicht in der Lage ihm zu verzeihen, sagte sie:

„Ich habe mir etwas überlegt. Ich weiss, wie ich dich zu einem weichen und zärtlichen Wesen erziehe. Wir werden deine Eier abschneiden! Schon ganz bald wirst du ein entspannter und freundlicher Hase.“

Er zuckte auf, als er ihre Worte hörte. Er blieb ihr lange eine Antwort schuldig. Die Angst quälte ihn. Er drehte den Kopf in Richtung Tür – traurig, mit Anstand. Diese unzweideutige Bewegung entging ihrem sonst aufmerksamen Blick.

Der Morgen erwies sich als düster und trostlos. Ein schwerer violetter Nebel hing über der Kirche. Die Glocken donnerten immer lauter, immer aufdringlicher. Sie weinte. Ungewollt erinnerte sie sich an ein Gedicht von Alexander Block:

„Der Morgen dauerte, dauerte und dauerte… 

Und eine müssige Frage fiel zur Last.

Und nichts dürfte aufgeklärt werden 

im brausenden Frühlingstränengras.“ 

Der Chirurg war ein mickriger trockener Typ. Er trug einen knittrigen Kittel. Ihre letzte Zweifel vertreibend, drückte er sich altklug und manieriert aus. Er sprach mit einem piepsenden Falsett als sei er selbst kastriert worden. Stellte Betrachtungen über Hormone an. Oksitozyn, Serotonin, Testosteron.

„Das wird ihm aber nicht weh tun, oder?“ fragte sie.

„Er wird keine Schmerzen verspüren. Wir geben ihm ein Schlafmittel.“

Sie wollte am liebsten selbst einschlafen. Sie wollte vergessen. So tun, als ob sie einander nie gekannt hatten. Doch es stellte sich ihr noch grausamer dar, das liebgewonnene Spielzeug seinem Element – der Strasse – zurück zu geben.

Auf dem Rückweg lief er humpelnd hinter ihr. Es regnete. Beide waren bis auf den letzten Faden nass. Am Abend legte er sich flink zu ihr ins Bett, schmiegte sich an ihren warmen Oberschenkel, schniefte.

Die Ruhe kehrte endlich in ihr Leben ein. Sie fühlte sich gelassen. Gelassen, besonnen und vernünftig, auch wohlweislich. Sie glaubte, sie fand den Schlüssel für die Erde. Ihre Gedichte strahlten Einsicht und Begeisterung, sogar Heiterkeit. Sie klangen seelenruhig, sachlich und konkret. Die Reime wurden rigoros und präzise, als ob sie von einem Brahmanen stammten, als ob ein Zen-Mönch dichtete. Sie produzierte viele Texte. Meistens ging es um die ewige Liebe und um die wiedererlangte Weiblichkeit.

Später entdeckte sie die Wissenschaft für sich. Sie studierte Gender Studies. Sie veröffentlichte zwei Essays über schädliche Wirkung des Testosterons und eine historische Forschungsarbeit über die Entmannung. Sie wurde bekannt und renommiert. Wie ein Stern glänzte sie auf der Universitätsszene.

Auch er fand immer mehr Ruhe in sich. Er wurde sanftmütig und gemütlich, etwas dick, roch fast nicht mehr. Er wurde von ihr gezähmt und domestiziert, nahm gerne Streicheleinheiten entgegen. Am Abend schaute er gelassen Fern, legte sich früh ins Bett, schlief sofort ein. Er träumte nichts. Er drückte sich an sie und hatte gerne ihre Ferkelzärtlichkeiten. An einem  Frühlingsmorgen, kurz vor dem Sonnenaufgang, kackte er direkt in ihr Bett.

Als sie gegen Mittag wach wurde, entdeckte sie zwischen den Brüsten eine braune Masse. Sie schnupperte. Im Zimmer stank es nach Kot.

„Und du, Dreckskerl, erlaubst es dir, mir ins Bett zu scheissen?!“

Sie schrie. Sie packte ihn am Rist. Stiess ihn kräftig mit der Schnauze in den dickflüssigen Batzen.

Er leistete nicht Mal Widerstand. Er versuchte nicht wegzulaufen. Er schaute ihr tief in die Augen und miaute leise.

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Der Einsatz (2014)

Aljoschas Fluchtgeschichte

Dieser Einsatz war absolut hoffnungslos. General-Leutnant Scharapoff, eine höchst manische und zutiefst depressive Persönlichkeit, wie es sie nur in Russland-Tschetschenien-Krieg geben kann, schickte sie in den sicheren Tod. Zwei Kriegskameraden, Sergej und Aljoscha, zwei blonde junge Soldaten, die in einer Moskauer Kadettenschule ausgebildet wurden, – es blieb ihnen nichts anderes übrig als die Flucht.

***

Bis zur Landstraße sind es dreißig Kilometer, wenn man sich im Wald auskennt, und sie haben Brot, Bier und Kippen dabei. Aber kein Geld.

An der Landstraße angekommen, warten sie nicht lange. Ein fetter dunkelhaariger Typ nimmt sie bis zum nächsten LKW-Rastplatz mit. Beim Ausstieg in der Dämmerung sehen die jungen Männer, wie müde Fahrer in ihren Kabinen schlafen. Ein Fahrzeug ist besonders lang und fällt Aljoscha sofort auf, auch weil es neu und sauber ist. Am Steuer schnarcht ein kleinwüchsiger Mann, der etwas gekränkt aussieht. Das Kabinenfenster ist offen, er will sich etwas frische Luft gönnen.

Die beiden Blonden, Sergej und Aljoscha, sie kamen immer schon gut klar miteinander, gar ohne Wörter. Ein Blick, ein Augenzwinkern, los! Einer hält dem Fahrer den Mund zusammen, der andere schlägt ihn mit der Bierflasche auf den Kopf. Ein Schlag, leise, dumpf, kräftig, und schon ist der Fahrer bewusstlos. Im Tiefschlaf spürt er nicht einmal Schmerzen. Sie werfen ihn raus, steigen ein, drehen den Schlüssel durch, der Motor springt an.

Hinter ihnen sind Kaviar-Konserven. Roter Kaviar, erste Sorte, vom Lachs. Fast zwei Tonnen in der Sonne glänzender hellroter Kügelchen, ungefähr vierzig Millionen Stück, aus jedem konnte ein Lachs werden. Und dann noch fast eine Tonne von der etwas schlechteren Qualität ganz hinten, im Anhänger. Die Warenpapiere finden sie auf dem Beifahrersitz, im brauen Lederkoffer. Der Fahrer hätte die Ladung nach Sankt Petersburg transportieren sollen. Nur kommen weder er noch die drei Tonnen Kaviar dort an.

Nach siebenhundert Kilometer finden sie ein großes Lebensmittelgeschäft. Der Betreiber, ein dunkelhaariger einäugiger Mann, scheint ein Kriegsoffizier und ebenfalls Deserteur zu sein, sie verstehen sich mit ihm sofort gut. Er besichtigt den Frachtraum, schaut sich langsam die Reihen von Paletten an, holt eine Hundert-Gramm-Dose heraus, dreht sie in der Hand und legt sie in die Hosentasche. Er lädt beide Männer in seine Datscha zum Essen ein. Es gibt Weißbrot, Kaviar und Wodka. Sie trinken bis spät in die Nacht, übernachten bei ihm und schlafen bis elf Uhr vormittags. Gegen Mittag kauft er ihnen alles ab, er zahlt sofort, genau fünfzig Prozent des Einkaufspreises, der in den Warenpapieren zu finden ist. Fürs Ausladen bestellt er zwei weitere Männer, Aljoscha und Sergey machen mit. Nach einer knappen Stunde können sie mit dem leeren Wagen weiterfahren. Nun haben sie Kohle im Plastiksack, viel Kohle, genau siebzig tausend Dollar. Die Warenpapiere verbrennt der einäugige Mann sofort, in ihrer Anwesenheit. Die Asche wird in alle vier Winde zerstreut. Zum Abschied schenkt er Aljoscha ein schickes Zenit- Feuerzeug, mit Gravierung und vergoldeten Korps, als Freundschafts- erinnerung, sozusagen.

Es dauert noch fast zwei Wochen bis sie in Moskau ankommen. Sie trinken und rauchen am Steuer, und sie schlafen auch am Steuer, wie nur Menschen mit reinem Gewissen schlafen können. „Здравствуй, златоглавая!“ – begrüßt Sergej seine Heimatstadt laut, mit singendem Tonfall, wie seine Braut. Den neuen Wagen führen sie vom zweiten Stadtring in eine dunkle Schlucht, in der ihn selbst die Miliz nie mehr findet, und nehmen in Vorfreude ein Taxi in Richtung Moskau City.

Im Zentrum mieten sie eine Suite mit Marmor-Bad im Hotel International, in einem der besten und teuersten Hotels im Land. Beide sehen scheußlich aus und riechen nach altem Schweiß und Tabak. Sie sind aber immer noch fit nach drei Wochen Flucht, wie es nur russische Soldaten sein können.

–  Was machen wir nun mit der Kohle? Was lässt sich mit siebzig Tausend Dollar alles veranstalten? – fragt Aljoscha nachdenklich.

–  Chercher la femme, – antwortet Sergey, der in eine Eliteschule ging, wo er klassische, fast adlige Bildung genoss und daher etwas französisch und Englisch kann. – Ich möchte endlich Wärme, weibliche Wärme spüren. Schon Woody Allen sagte: „Ich weiß nicht, was die Frage ist, aber die Antwort ist mit Sicherheit „Sex““ – fügt er lächelnd hinzu.

–  Einverstanden, – sagt Alexej. – Lass uns die schönsten Mädels bestellen.

–  Warte kurz, – Sergey berührt Aljoscha an der Schulter. Seine Augen leuchten:

–  Ich habe noch eine Idee… man muss es wirklich schick machen. Schick und elegant! Genauso, wie in Paris! Lass uns gleich fünf junge Kurtisanen hierher holen und dann… und dann… lass sie in Champagner baden, und zwar, im richtigen Champagner…. In diesem… Wie heißt sie… diese Witwe a la France… Alex beißt sich an der Zunge.

–  Meinst du Veuve Cliquot?

–  Veuve Cliquot! Lass uns gleich Zweihundert Flaschen davon bestellen und zusammen Spaß haben. Und bitte… Bitte Rosenblätter nicht vergessen. Die Schönheit, Sergej! Schönheit, Ästhetik und Eleganz… Das alles muss sein.

An der Rezeption bestellen sie fünf erstklassige Escort-Girls und zweihundert Flaschen Veuve Cliquot. Der alte grauhaarige Portier raucht eine kubanische Zigarre und trägt einen Frack. Er zuckt nicht mal mit den Wimpern, als er die Bestellung von jungen Männern mit glänzenden Augen aufnimmt; er bleibt cool und präsent; in seinem Leben als Portier in einem Fünfsternhotel hat er einiges gesehen und weiß, dass solch verdächtige und stinkende Typen die großzügigsten Kunden sein können. Er möchte bloß kurz das Geld sehen und erinnert Sergey daran, dass die Bezahlung in voraus zu leisten ist. Damit haben sie kein Problem, Sergey wirft mit einer coolen Geste ein Paar Geldstöße auf die Theke. In einer Stunde sollen Champagner und Rosen ankommen, in zwei Stunden die Escorts. Sie haben noch genug Zeit um ihre Marmorwanne zu füllen.

Ja, sie füllen die Badewanne mit Champagner, mit Veuve Cliquot, Flasche für Flasche, das laute Korkenknallen kann man im Korridor hören. Nebenbei trinken sie selbst Champagner, doch da er ihnen nicht stark genug erscheint, kommt bald auch noch Wodka ins Spiel. Der Cocktail nennt sich „Kaulbarsch“, weil er den Hals „hackt“. Er schmeckt grausam und macht sogar russische Soldaten schnell betrunken. Als fünf hübsche Models in Strapsen und teuren Dessous ankommen, sind Serjoscha und Aljoscha schon so besoffen, dass sie keine Ahnung haben, was es mit den Mädchen zu tun gibt. Und selbst wenn sie eine Ahnung hätten, könnten sie nichts mehr tun.

Diese fünf teuren russischen Perlen, kaum achtzehn Jahre alte Mädchen, baden wohl gerne im Champagner und amüsieren sich echt dabei. Vergnügt schmachtend, schwatzend, laut lachend bringen sie mit ihren verführerischen Posen beide junge Männer dazu, noch mehr vom „Kaulbarsch“ zu trinken, so lange, bis sie nicht mehr ansprechbar sind.

Und dann verschwinden sie ganz schnell. Der ganze Service kostet Aljoscha und Sergey satte fünfzehn tausend Dollar in bar, drei tausend Dollar pro Mädchen, ohne dass sie eins von ihnen jemals berührten.

– So ́ne Scheiße! Scheiß Nutten… – schreit Aljoscha mitten in der Nacht melancholisch und spuckt auf den ohnehin schmutzigen Boden.Als sie am nächsten Morgen wieder wach werden, ist der Kater deutlich spürbar und draußen regnet es. Nun fühlen sie sich müde, traurig, nachdenklich, aber noch zu weiteren Moskauer Abenteuer bereit. Fünfundfünfzig tausend US-Dollar bleiben ihnen noch in der Plastiktasche.

–  Also… Was machen wir mit dem Rest? Was lässt sich mit diesen Scheiße-US-Dollar sonst noch alles veranstalten? – fragt Aljoscha mit einer Miene im Gesicht, die seinen Ekel bezüglich amerikanischer Währung deutlich zum Ausdruck bringt.

–  Ich habe eine tolle Idee, – sagt Sergej. – Wobei, ich muss dir eingestehen, dass diese Idee nicht wirklich meine ist. Etwas Ähnliches las ich Mal bei Dostojewsky, bevor ich zur Armee ging. Und ich wollte es immer schon machen. Mir einen Lebenstraum erfüllen…

–  Was denn? – Aljoscha scheint neugierig zu sein, aber auch skeptisch.

– Schau Mal… – Sergej reibt sich kräftig die Augen. – Wir haben die Kohle in einhundert-Dollar Banknoten. Insgesamt füfhundertfünfzig Geldscheine. Lass uns das Geld einfach aus dem Fenster auf die Straße werfen und schauen, was passiert… Du weißt ja selbst… Der Mensch ist von Natur aus gierig…. Gier verursacht Kampf, und der Kampf verursacht Krieg, Not, Unfälle… Was tut alles ein Mensch hier in Moskau für einhundert Dollar? Was opfert er dafür? Wie weit geht er? Heute, gerade jetzt, haben wir die Chance, es zu erfahren.

Sergey, der russische Soldat, scheint einer philosophischen Stimmung zu verfallen. Er nimmt einen großen Schluck aus der halbvollen Champagner-Flasche, die seit Abend am Nachttisch steht, stößt laut auf mit der zweiten leeren Flasche und spricht weiter:

– Mon Cher, wir werden es live erfahren, es mit eigenen Augen sehen, es miterleben… Das Drama, die Bühne des Lebens… Die wahre menschliche Natur. Den Mensch, wie er wirklich ist, wenn es ums Geld geht… So eine Aufführung, eine Tragödie… oder eine Komödie, wer weiß es schon… Verstehst Du, Bruder?

Eine Pause setzt sich durch. Aljoscha lacht. Er lacht leise, dann etwas lauter. Dann wird er immer lauter, und noch lauter, bis er gewaltig schreit:
– Sergey, mein Freund! Du bist ein Philosoph! Und auch noch ein Finanzgenie! Ich sage es dir: „Du bist ein Finanzgenie!“

Aljoschas Augen glänzen. Er steht auf, kommt näher und schüttelt Sergey die Schultern. Er lacht. Er sagt:
– Weiß du, Bruder… Eigentlich wollte ich sofort von hier abhauen, die Kohle mit Dir teilen und meiner Mutter ein kleines Häuschen am Land in der Nähe von Voronezh kaufen. Ich wollte mit ihr dort den Rest ihres Lebens verbringen. Dann wollte ich Natascha heiraten, mit ihr Kinder zeugen, und dann mit Natascha und mit den Kindern im Häuschen am Lande zusammen leben, das Nest pflegen, wie ein Bürger, wie ein richtiger Bürger, weiß du wie… Aljoscha verstummt, als ob er einen Klumpen im Hals hat. Nach einigen Sekunden spricht er weiter.

– Aber… Du hast Recht, mein Freund! Ich meine… Ich meine… es ist ja total langweilig! Es ist etwas für Deutsche, und für Amerikaner, und für den Rest der Erde, für die Schweizer, vielleicht… Aber doch nicht für uns, Bruder! Doch nichts für uns Russen!

Er wird wieder still und lenkt seinen Blick zum Fenster. Dann spricht er wieder:

– Natascha hat bestimmt einen Neuen. Warten, jahrelanges Warten auf mich, den Bräutigam… Das liest man in der Schule in diesen Romanen, aber welche Frau kann das heute noch?! Und meine Mutter… Sie kommt schon alleine zurecht… Ich finde Deine Idee genial: Wir erfahren sonst nie, wie Menschen wirklich sind. Und wir haben jetzt, jetzt gerade die Gelegenheit dazu. Wer weiß schon, ob wir die Gelegenheit jemals sonst noch haben werden…

Sein Blick wird fast wahnsinnig. Er zittert, wackelt mit dem Kopf. Er schreit: – Also, Bruder, lass es uns gleich ausprobieren!

Sergey holt den Sack voller Bargeld vom Tisch. Dann trinkt er seinen letzten Schluck Champagner und wirft die Flasche auf den teuren Parkett. Die scharfen Scherben fliegen herum.

Sie werfen das Geld tatsächlich aus dem Hotelfenster. Sie schauen vom Balkon im sechsten Stock aus, wie die Geldscheine runtersegeln, wie Confetti. Jede Banknote entspricht einem Durchschnittsmonatslohn eines Fabrikarbeiters, oder vier Monatsrenten einer alten Frau, wie Sergeys Mutter. Krise und Hunger herrschen in dieser Zeit in Russland, eine tiefgehende Krise und Hunger.

Das Geld landet auf die nasse Fahrbahn. Einige Menschen werfen sich unter vorbei fahrende Autos um einhundert-Dollar-Scheine zu holen. Eine alte Frau will gleich einen ganzen Stoß vom Wasser zusammengeklebten Banknoten ergreifen, passt nicht auf den LKW auf, wird sofort überfahren. Mehrere Menschen steigen aus ihren Autos aus um an Banknoten zu kommen. Von hinten werden die Autos zusammengeschlagen und überfahren. Innerhalb von drei Minuten bildet sich vor dem Hotel ein riesiger Unfall mit mehreren dutzenden Schwerverletzten und sieben Toten. Über vierzig Autos werden zerstört, ein Brand entwickelt sich, einige Bäume fallen. Zwei benachbarte Hochhäuser brennen mehrere Stunden lang.

– Lieber so, als bei Scharapoff dranzukommen. Oder einen tschetschenischen Messer im Rücken zu spüren, – konstatiert Sergey eine Tatsache.

Serjoscha und Aljoscha beobachten das Drama aufmerksam aus dem Balkon ihrer Luxus – Suite, wie das königliche Ehepaar aus der Theater- Loge. Sie unterhalten sich leise. Ihr Menschenbild bestätigt sich. Garantiert.

Die Miliz kommt viel zu spät, wie es zur Natur der Miliz gehört. „Russischer Mann fährt langsam“ – heißt es sprichwörtlich. Trotzdem gelingt es Sergey und Aljoscha nicht mehr rechtzeitig aus dem Hotel International zu flüchten. Sie wollen auch nicht wirklich flüchten. Sie haben genug von Flucht.

***

Bald stellt sich heraus, dass zwei Deserteure aus Tschetschenien am Abend das Champagnerbad und am Morgen das Blutbad veranstalteten. Sie werden festgenommen und zur Miliz gebracht.

–  Wer aus dem Krieg flüchtet, der endet in der Zelle, – sagt Aljoscha zu seinem Freund, als sie im Milizwagen sitzen, mit Handschellen, unter Aufsicht.

–  Schon gut, – antwortet Sergey, – ist doch besser als in der Hölle. Du brauchst dich nur an unseren General zu erinnern…

–  Stimmt… – erwidert Aljoscha und fügt hinzu:

–  Wer bei uns in Russland die wahre Natur des Menschen erfahren will, der ist lebenslang darauf aus zwischen dem Tod und dem Knast zu wählen. Keine einfache Wahl ist das… Aber man wählt halt das kleinere Übel.

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Geld retour (2014)

Eine (fast) wahre Geschichte

Geld retour Elias Kirsche
„Kupon“, ein ukrainisches Wertpapier im Wert von 500.000 ukrainischen Rubel aus dem Jahr 1994. Rechts sieht man den Fürst Vladimir, der einen Kreuz trägt. Vladimir liess sich im Jahr 988 taufen und führte damit Christentum in den Staat namens Киевская Русь („Kiewer Russland“) ein

„- Von wo kommt bei Ihnen das Geld? – Vom Nachttisch.
– Und wer legt es dorthin?
– Meine Frau.
– Und von wo kommt es zu ihr?
– Von mir.
– Und von wo nehmen Sie es?
– Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt. Vom Nachttisch.“
Im Jahr 1991, in einem Jahr, geprägt durch den Zerfall des Sowjetischen Imperiums, erzählte mir der Vater am dürftigen Mittagstisch diese uralte jüdische Anekdote. Ihr paradoxes Wesen faszinierte meine unreife neunjährige Psyche. „Wo holt denn dieser anonyme Typ sein Geld her?“ – dachte ich, verblüfft und besorgt in Richtung Himmel schauend, während mein Vater sich über den von ihm selbst erzählten Witz vor Lachen am Boden wälzte und die Inflation des Rubel in meiner Heimat Zweitausendvierhundertneunzehn Prozent erreichte. Er hatte eine solche gutmütige Gewohnheit. Es war ein sehr kalter, trüber ukrainischer Winter und die Wege waren pures Glatteis. Ein Brot kostete zu diesem Zeitpunkt bereits einen fünfstelligen Betrag und die Löhne meiner Eltern, die sich noch nur in dreistelligen Beträgen ausdrückten, wurden seit sieben Monaten überhaupt nicht mehr bezahlt. Innerhalb von zwei Nächten hatte meine Familie das von zwei Generationen aufgebaute Vermögen verloren. Was mein Vater bekam war ein Herzinfarkt, den er durch den Einsatz von Elektroschock im letzten Moment überlebte. Drei Jahre später wog er über Einhundert Kilo, trug eine löchrige Jogginghose und einen Herzkatheter und las abends vor dem Einschlafen Kurzgeschichten von Shalom Aleichem. In diesen tragikomischen Geschichten ging es immer wieder darum, wie eine verarmte Hauptfigur schnell wieder an ihr verlorenes Geld zu kommen versucht. Allerdings gelang es ihr nie.

Normalerweise geht man als kleiner Junger davon aus, dass man die Fürsorge den Eltern überlassen kann. Da aber mein Vater schliesslich arbeitslos und berufsunfähig wurde, war ich permanent darauf angewiesen, mich mit den pragmatischen Fragen des Geldes zu befassen. Schon als Kind musste ich mein Geld selbst verdienen. Und es mussten über zwanzig Jahre vergehen, damit ich den globalen Geldkreislauf, wenn auch nur teilweise, erfassen konnte. Der Auslöser meiner plötzlichen Erkenntnis war, wie logisch, oder wie „natürlich“, das auch einem vorkommen mag, eine Waschmaschine.
Bevor ich in die reiche Schweiz kam, hatte ich das Glück (oder das Unglück?) durch viele arme Städte und Länder, wie z.b. Berlin oder Deutschland, zu reisen. Ich mietete günstige Zimmer oder Wohnungen, in denen es verschiedene Arten von Maschinen gab: Schreib-, Zeit- und Gedächtnismaschinen, und sogar eine amerikanische Fuckmachine, aber eine Waschmaschine gab es dort nie. So war ich überall auf so genannte Waschsalons angewiesen. Die innere Einrichtung dieser Salons variierte von absolut geschmacklos bis einfach kitschig und rief bei harmoniebedürftigen Menschen, wie ich es nun bin, ein Gefühlsspektrum hervor, das vom rudimentären Abscheu bis radikaler ästhetischer Unverträglichkeit reichte. Die Bedienungsanleitungen zu den Waschmaschinen wurden in den Salons immer in einer anderen Fremdsprache verfasst, aber die finanziellen Prozeduren wurden überall nach dem gleichen und einfachen Prinzip organisiert. Man musste weder Maschinenbau in Deutschland noch Wirtschaft in England studieren, um ihn zu verstehen. Für einen Waschgang wurde Kleingeld verlangt. Erst nach Einwurf von baren Münzen würde die Waschmaschine starten. Es gab aber ein Problem: in allen armen Ländern, wo ich nur gewesen war, schluckte die Maschine oft das Geld und ging nicht an. Es herrschte Stille und es passierte nichts. Und es war niemand, kein lebendiges Wesen da, bei dem man die gemeine Waschmaschine anklagen konnte. Man fand sich selbst in der kargen Gesellschaft von anderen Waschmaschinen vor, einsam, mit eigener kurzlebiger Vitalität, und wollte nicht unbedingt wegen etwas Bargeld einen grossen Ärger verursachen.

Bei diesen fresssüchtigen Automaten gab es noch so einen Knopf, der leider nie funktionierte. Es stand ein Slogan mit Ausrufezeichen am Ende drauf: „Retour!“ oder „Geld zurück!“, oder „Money Back!“, oder, wie in Russland, „возврат монеты!“. In allen Ländern wurde dem Nutzer das Geld zurück versprochen. Doch der Knopf erwies sich, und zwar global, als völlig nutzlos und der Aufruf nach Gerechtigkeit als gänzlich irrelevant. In den Städten, wo es den meisten Menschen finanziell, wie man es politkorrekt sagte, „nicht so gut ging“, bekam ich nie mein Geld zurück, auch wenn ich mehrmals auf den Knopf drückte. Ich fühlte mich dann so, als ob ein Unbekannter mein Vertrauen in die Waschmaschinen ständig missbrauchte und mir kam der Verdacht, dass der Knopf von einem globalen Netzwerk oder einer Sekte von hinterhältigen Maschinenbau- ingenieuren extra erfunden und konstruiert wurde, um naive Nomaden wie mich zu täuschen. Vielleicht war auch gar kein Mechanismus, der Bargeld zurückgibt, vorgesehen und der Knopf, von schlauen Erfindern erdacht, existierte von dem Rest der Maschine absolut losgelöst mit einem einzigen mental-sadistischen Ziel, beim leichtgläubigen Benutzer vergebliche Hoffnungsgefühle zu wecken, etwa genauso, wie ein Priester bei der Sonntagsmesse seiner Herde das ewige Farbenleben im Paradies verspricht. Die Hoffnung stirbt ja als Letzte. Auch bei mir dauerte es lange bis sie starb. Schliesslich vertraute ich den Maschinen nicht mehr. Ich kam auf die Idee einen internationalen Verein, oder eine Selbsthilfegruppe für von Waschmaschinen missbrauchte Menschen zu gründen. Dieseseigentlich existentielle Anliegen (denn, es ging ja tatsächlich um existentielle Fragen!) war eine gute soziale Sache, die nie zur Realität wurde. Doch materielle Verluste waren immer real.
Verärgert fühlte ich mich gezwungen, meine Wäsche in eine andere Waschmaschine zu verlegen, die leider Gottes in einer ganz anderen Ecke des Zimmers stand. In meinem mobilen Wäschekorb befanden sich einige schwarze Hemden, Seidenhalstücher von Yves Saint Laurant und Krawatten von Versace. Sie alle stammten aus diversen Second-Hand- Läden in Paris und Barcelona. Meine so genannte „Berufsbekleidung“, die zugleich „Strassenkleidung“ war (denn ich musste immer nur auf der Strasse arbeiten: als Strassenkünstler, Strassennarr, Strassenastrologe und schliesslich auf dem Strassenstrich), bestand aus überwiegend schwarzen Kleidungsstücken aus Leder, Satin und Samt. Dazu kamen Einzelsocken in verschiedensten Regenbogenfarben und einige lila Unterhose, meine Lieblingsstücke aus der Berliner Zeit, wo vorne und hinten einige Namen von Berliner U- und S-Bahnhöfen abgedruckt wurden, wie etwa Jungfernheide, Gleisdreieck oder Schöneberg. Unter dem teils neugierigen, teils verächtlichen Blick einer alten Dame, die mehr oder weniger zufällig auch eine auffällige lila Unterwäschelinie besass, jedoch ohne diese kleinen Aufdrucke, fühlte ich mich gezwungen in einer möglichst ruhigen Körper- und Geisteshaltung noch mehr Geld in eine andere Waschmaschine einzuwerfen. Dabei fragte ich mich innerlich: wo geht denn mein verlorenes Geld hin? Und wer bekommt es denn letztendlich? Ich durfte aber nicht erwarten, dass ich die Antwort jemals erfahren würde.
Als ich meiner Mutter, mit der ich aus den Waschsalons regelmässig telefonierte (in den russischen Salons gab es Telefonautomaten, die natürlich auch bare Münzen schluckten) von diesen mechanischen Intrigen verbittert erzählte, blieb sie leidenschaftslos und absolut gelassen:
– Mama, stell es Dir Mal vor, – sagte ich empört – überall in der Welt die gleiche Scheisse, nur in unterschiedliche sprachliche Umschläge verpackt! Gerade vor zwei Wochen passierte es mir sogar in Deutschland! Es hiess in einem Frankfurter Waschsalon „Geld Zurück!“ Mit Ausrufezeichen. Und, was glaubst Du? – Keine Reaktion!! Von den Deutschen hätte ich so etwas erwartet!! Wirklich!! – Ich schrie.
– Ergib dich deinem Schicksal und nimm das Leben so wie es ist, – sagte meine Mutter monoton. – Denn: Das Leben ist einfach ungerecht. Glaube mir, mein Sohn! Das ist so. Demut heisst aber der Beginn der Weisheit.

Während die Mutter weiter sprach beobachtete ich still durch kleine runde Plastikfenster, wie verschiedene fremde Kleidungstücke in den benachbarten Waschmaschinen kreisten. Es waren blaue Hosen, die afrikanische Hausmeister trugen, Bauarbeiter-Uniformen aus Polen, teure Reizunterwäsche von Prostituierten aus allen diesen neuen Ländern Osteuropas und, schliesslich, billige weisse Hemden, die verschiedensten Arten von „Office-Plankton“ gehörten, wie man in Russland halblegale Büroarbeiter nennt. Mitten in einem längeren Monolog (meine Mutter war gerade dabei die offensichtliche Ungerechtigkeit des Lebens mit Hilfe esoterischen Schnickschnacks, einem Gemisch aus Theosophie und New Age zu erklären) legte ich ungeduldig auf. Ich hatte überhaupt keine Lust, weder auf christlich geprägte Lebensberatung noch auf Predigten über den Nutzen der Demut. Ich war mit der Lebenseinstellung meiner Mutter ganz und gar nicht einverstanden. Und das Glauben fiel mir immer schon schwer. Ich konnte niemals und niemandem glauben, sondern wollte die Wahrheit selbst herausfinden. Zu dieser Zeit Philosophiestudent in Berlin, war ich etwas skeptisch gegenüber ihrer Theorie der axiomatischen Ungerechtigkeit des Lebens. Eher musste eine Gerechtigkeit oder ein Ausgleich auf der metaphysischen oder globalen Ebene existieren, die meine Mutter und ich noch nicht fassen konnten. Ich erinnerte mich an Lola, an kleines sibirisches Kätzchen, das dem Alex, einem Freund von mir, gehörte. Wenn man Alex Erzählung glaubte, ist Lola zufällig in seine Waschmaschine eingesprungen und überlebte einen komplizierten Waschgang. Ich kam mir damals wie Lola vor, die trotz ihrer natürlichen Schwäche und Verletzbarkeit genug Lebenskraft und Ausdauer besass. Und tatsächlich: ich war nicht nur ein Lebenskünstler. Ich war ein Überlebenskünstler. Verärgert über das betrügerische Wesen der Betreiber dieser Salons, s. g. Waschsalons, bin ich letztendlich in der Schweiz gelandet.
Die zweisprachige Stadt Biel oder Bienne, in der ich mich nun aufhielt, schien in vielen Aspekten ziemlich schräg zu sein. Französinnen reifen Alters, gekleidet in englische Schuluniformen, die auf Strassenkreuzungen Erotikfilme mit ihnen selbst in der Hauptrolle verkauften. Halbtaube alte Männer, die, eine unschuldig-neugierige Miene aufgesetzt, junge Männer hartnäckig danach befragten, wie sie zu irgendeiner Romanlesung gelangen könnten, obwohl sie die Wegbeschreibung nicht mal hören konnten. Magere, abgenutzte Typen in schwarzen Hüten und trendigen Sonnenbrillen, die beim trüben Wetter in der Dämmerung aus den Gassen der uralten Altstadt, Urstadt von Biel hinaussprangen. Ich wusste, dass in vielen diesen Gassen, in den Kellern, die sich unter diversen Boutiquen und kleinen internationalen Läden versteckten, private Waschsalons existierten, die reibungslos funktionierten. Es gab viele Multi-Kulti-Typen in Biel, die aus der ganzen Welt kamen und, wie ich, mehrere Nationalitäten, ethnische Wurzeln und Staatsangehörigkeiten hatten. Mit einem Satz, ich fühlte mich hier zum ersten Mal im Leben wie Zuhause, wenn es für mich irgendein Zuhause geben konnte. Der Höhepunkt meines Wohlgefühls (oder doch der Absurdität des Ganzen?) war die Bieler Waschmaschine.
Zur charmanten Dachwohnung, die ich im Stadtzentrum mit einem anderen Lebenskünstler bewohnte, gehörte eine so genannte Waschküche. Dort habe ich einen Schweizer Franken und zwanzig Rappen in die Waschmaschine eingeworfen und sie startete sofort. Der Waschgang dauerte etwas länger als üblich, so dass ich Zeit hatte eine Zeitung zu lesen. Auf der brüllenden Waschmaschine sitzend, erfuhr ich aus der aktuellen Presse, dass der von Vladimir Putin freigelassene russische Oligarch Michail Chodorkowski, der Namensvetter meines Vaters und ebenfalls ein Jude, heute in der Schweiz angekommen ist, wo er feierlich erwartet und begrüsst wurde. Hier in der Schweiz wurde sein Vermögen von rund 6,2 Milliarden! Schweizer Franken eingefroren. Hier nebenan, in der französischen Schweiz, lebte in einer luxuriösen Villa seine Familie. Und hier stand Micha nie vor einem Gericht.
Als mein Waschgang beendet war, freute ich mich nicht nur darüber, dass er dieses Mal ohne Fressversuche funktionierte. Nein, durch früheren Schaden gewitzt und durch eine Art unbewusste Kompensationslust getrieben, habe ich den berüchtigten Knopf gedrückt. In der zweisprachigen Stadt hiess der Knopf entsprechend sprachsynthetisch „Geld retour“, ohne Ausrufezeichen, alles ganz klein geschrieben.

Und! Was nun! Im tiefen Inneren des rätselhaften Automaten erklangen unerwartet bedeutungsvolle Geräusche und einige Schweizer Münzen fielen ins Fach. Ich holte sie heraus und zählte nach. Es waren ein Franken und vierzig! Rappen. Das war aber ein Geschäft! Nicht ohne Bewunderung musste ich feststellen, dass es sich dabei um einen tragikomischen Versuch handelte eine Art „Gerechtigkeit“ wieder herzustellen, – zumindest teilweise und rein formal, wenn auch überhaupt nicht quantitativ. Ich hatte einen glänzenden Einfall und erfuhr plötzlich, wo das ganze Geld hinging, das auf langen und harten Weg verloren wurde, – das Geld, das die unsichtbare Hand des ebenfalls unsichtbaren Hähnchenmastbetreibers mir immer wieder entnahm. In diesem Augenblick wurde mir die Essenz der internationalen Wirtschafts- beziehungen in vollem Umfang bewusst. Der Vorfall in der Waschküche, bei dem ich einen kostenlosen Waschgang plus zwanzig Rappen verdiente, musste mit der Ankunft des Oligarchen in einem räumlichen, symbolisch-metaphysischen Zusammenhang stehen. Die kleine Kompensation, die ich bekam, entsprach natürlich nicht dem Betrag, den ich in all diesen Jahren in die Waschmaschinen rund um die Welt zwangsinvestiert habe, ganz zu schweigen vom verlorenem Vermögen meiner Familie. Ich durfte mich aber wenigstens über einen lächerlichen Prozentbetrag erfreuen, der mir nun von der verlorenen Summe sozusagen zurückerstattet wurde. „In der Schweizer Waschküchen geht man anders mit Geld um als in der Rest der Welt!“ – dachte ich, während meine rechte (oder war das die linke?) Hand kleine kalte Münzen hielt. Scheinbar steht hier das Geld des Benutzers und nicht die Fresssucht im Vordergrund. Über das kollektive oder subjektive Gerechtigkeitsprinzip bzw. über die internationale Wirtschaftsethik will ich an dieser Stelle (noch) nicht spekulieren. Doch, wer weiss: Wenn ich mich in der Schweiz niederlasse und wenn es in diesem Stil weiter geht, werde vielleicht sogar ich als bescheidener Schweizer Konsument im Rentenalter mit Waschmaschinen etwas gewonnen haben.

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