Elias Kirsche - Text und Sex

Erotographie - Erotosophie - nacktes Dasein

Gekreuzte Parallelen

Ich stehe auf dem Bahnsteig am Bahnhof meiner Heimatstadt Bielohorodka in der Nähe von Kiew und lese in der Zeitung:

„Vladimir Putin möchte die russischsprachige Bevölkerung von Donbass schützen, verneint aber die Präsenz von russischen Truppen und schweren Waffen in der Ostukraine. EU, USA und UNO äussern grosses Besorgnis. Inzwischen sind nach inoffiziellen Angaben durch den „Schutz“ von Putin vierzigtausend Menschen im Konflikt gestorben und Hunderttausende haben ihre Arbeit und Häuser verloren.“

Ich überlege, wie mein Leben weiter gehen soll.

Ich steige ein, mein Zug fährt an. Die sogenannten „Diesel“, Regionalzüge von Bielohorodka nach Kiew, fahren selten, im Zweistundentakt. Bielohorodka ist eine Satellitenstadt, fünfzigtausend Einwohner. Die Menschen hier schlafen, essen, ziehen Kinder gross, bauen Gemüse an, vor allem Kartoffeln, die sie ein- oder ausgraben, Jahr für Jahr. Mit ca. sechzig Jahren sterben sie, genauso demütig, wie sie gelebt haben. Viele sterben früher, mit fünfzig Jahren. Zur Arbeit und zum Feiern fahren sie nach Kiew. Wenn ich wegfahre, dann meistens abends, zu einer Vernissage mit dem Linienbus. In der Hauptstadt eröffnet jede Woche eine neue Kunstausstellung. Heute fahre ich ausnahmsweise gegen Mittag und mit dem Zug.

Ich betrachte mein Gesicht im Kosmetikspiegel und stelle fest, dass ich älter aussehe als ich wirklich bin. Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal mit dem Diesel gefahren bin! Vielleicht vier Jahre? Im Sommer 2011, als ich meine letzte Stelle als Grafikerin bei der Redaktion einer russischsprachigen Business-Zeitschrift kündigte. Eine Ewigkeit scheint seither vergangen. Es gibt eine Kluft zwischen damals und heute. Aber der Regionalzug hat sich nicht verändert. Es sind dieselben veraltete Waggons aus der Sowjetzeit, mit fadenscheinigen Sitzen, verrosteten Fensterrahmen und schmutzigen Fenstern. Hinter dem Dreck erkennt man die Landschaft kaum. Dieselben betrübten Passagiere, krank, müde und unglücklich. Dieselben kläglichen Verkäufer, die ihre Kleinigkeiten um jeden Preis loswerden wollen: Pflaster, Zwieback, Süssigkeiten aus dem Vorjahr. Sie gehen immer noch langsam, leicht hinkend an den Sitzreihen vorbei. Sie murmeln monoton denselben Text, den sie als Kinder einst auswendig gelernt haben.

Ich wühle in der Handtasche, hole ein Lippenstift und befeuchte meine trockene Lippen. Mit einem nassen Taschentuch entferne ich etwas Schmutz vom Fensterglas. Jetzt sehe ich endlose armselige Bruchbuden hinter den halbverfaulten grüngrauen Zäunen. Ein Paar renovierte Häuser fallen auf durch ihre Fassaden, die geschmacklose grelle Farbtöne aufweisen. Dazu gehört häufig ein eiserner Zaun und eine runde Satellitenantenne: Die Mittelschicht kann sich gerade die Abgrenzung von der Aussenwelt und bis zu einhundert Fernsehkanäle leisten. Luxus-Villas, die den Neureichen gehören, sieht man aus dem Zugfenster nie. Die grossen, pompösen Paläste darf man nur würdigen, wenn man sie mit einem Geländewagen anfährt. Deshalb fahren alle unsere Politiker Geländewagen. Wie ein Vers aus dem 18. Jahrhundert treffend sagt:

„Es gibt bei uns nur zwei Probleme:
dumme Menschen und schlechte Wege.“

Die Schweizer Regionalzüge sind sauber, warm und bequem. Jetzt fahre ich mit einem solchen Zug von Biel nach St. Blaise. Biel ist eine Stadt mit fünfzigtausend Einwohnern. Von Biel aus erreicht man alle Schweizer Grossstädte sehr schnell. Bis zur Hauptstadt Bern fährt man etwa dreissig Minuten, nach Zürich fünfundsiebzig, nach Basel eine Stunde, nach Genf weniger als neunzig Minuten. In Biel gibt es einen malerischen See, zwei Sandstrände und eine wunderschöne Altstadt mit altertümlichen Häusern und Kirchen. Es gibt in dieser kleinen Stadt zwei Theater, einige Museen und Hochschulen. Im Sommer finden hier diverse Festivals statt. Biel ist eine Kulturstadt und gilt als eine der ärmsten Städte der Schweiz. Nachdem ich im Rahmen von Künstleraustauschprogrammen in Berlin und Zürich gewohnt habe, fand ich die Kunstresidenz in Biel zuerst langweilig. Doch seitdem ich in Biel eine zeitgenössische Galerie entdeckte, erhalte ich dort meine kleine Dosis Sozialleben.

Die schöne Schweizer Landschaft wird durch kein Staubkörnchen getrübt. Der Zug fährt an kleinen Dörfer vorbei, die alle ähnlich aussehen: Moderne Häuser, alle ungefähr gleich gross, mit flachen Dächern und riesigen Panoramafenstern. Es gibt auch alte Villas mit Dachziegeln und Fensterläden. Wenn diese Häuser in zwei Reihen an einem Hügel stehen, assoziiere ich das Bild mit zwei Reihen von gesunden Zähnen, die ein heiteres Lächeln eines glücklichen Menschen bilden.

Ich bin nervös, da ich in Kiew einen ungewöhnlichen Murksauftrag auszuführen habe. Ich muss dreizehn genau gleiche Imitationen eines Gipsornaments an die Decke malen, in einem rosafarbigen Raum, der sieben Ecken und sechs Wände hat, mit allen Zwischentönen und Schatten. Ich muss so präzise und fleissig malen, dass ein Gast, der das rosa Schlafzimmer betritt, den Eindruck bekommt, dass es sich dabei um einen echten, authentischen Stuck aus der Barock-Epoche handelt.

In der Kunstakademie und vorher in der Malschule habe ich eine Menge Gipsporträts gezeichnet. Die Wandmalerei beherrsche ich auch gut. Als Künstlerin musst du einiges können… Aber eine Stuckimitation malen… Das habe ich noch nie gemacht.

Vor zwei Wochen traf ich meinen Auftraggeber. Er zeigte mir Ornamente. Ich fotografierte sie und mass den Raum aus. Zuhause skalierte ich sie, zeichnete am Computer nach und druckte im richtigen Massstab aus. Es waren insgesamt drei Tage Arbeit, von morgens bis abends.

Ich bin nervös, da ich in St. Blaise einen ungewöhnlichen Murksauftrag auszuführen habe. Ich muss einer älteren Frau eine Tantramassage geben. Die Tantramassage ist ein Geburtstagsgeschenk eines ca. sechzigjährigen Mannes an seine Frau, zu ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag. Vor zwei Jahren besuchte ich Tantramassage-Kurse und gab einige Tantramassagen an Männer. Ich hatte  auch erotische Erfahrungen mit Frauen. Aber eine Tantramassage für die Frau… Das habe ich noch nie gemacht. 

Dunkle Erinnerungen an Frauen tauchen auf: Polina, die sich im Bett grober und fordernder verhielt als manche Jungs. Natalie, die sich permanent Sorgen um hygienische Aspekte machte und immer aufpasste, dass unsere Säfte sich nicht vermischten. Sex mit ihr bestand aus flüchtigen Berührungen und „Spritztouren“ dort unten. Mit anderen Mädchen erlebte ich zärtliche Umarmungen, unzweideutige Reibungen mit dem Schambein an Oberschenkel, Nacken- und Zungenküsse. Einmal bewegte mich ein Kollege dazu, eine gemeinsame Freundin mit der Zunge zu liebkosen. In der Regel begegnete ich Mädchen in der Gegenwart eines Mannes, nicht selten mit mehr oder weniger verstecktem Appell, seine Lust zu erregen. Heute wird es auch in der Anwesenheit eines Mannes stattfinden. Vor zwei Wochen bestellte dieser Mann bei mir eine Tantramassage, für sich selbst. Er wollte meine Berührungsqualität zuerst an sich kennenlernen, bevor er mich an seine Ehefrau ranlässt. Es war geplant, dass er mich zu ihnen nach Hause einlädt, damit ich seine Liebste sinnlich verwöhne.

Sie leben bereits zehn Jahre zusammen und lieben sich jeden Tag leidenschaftlich, sagte er. Sie sind ein Leib und eine Seele, sagte er. Es war wunderbar, wie ich berührte, sagte er, darum fahre ich jetzt zu ihnen…

In der Bahnhofsstation „Вокзальна“, in der ich umsteigen muss, verspüre ich wie immer ein Gefühlscocktail aus Hektik, Mitleid und Aversion. Das imposante Bahnhofsgebäude ist heute verfallen, es ist mit Pennern, Bettlern, Alkoholikern und Junkies vollgestopft. Es herrscht hier ein Gestankgemisch aus Schweiss, Urin, Kot, Bier, Wein und Wodka, das, obwohl ich Schnupfen habe, kaum auszuhalten ist. Ich laufe schnell weg, zur Bushaltestelle und nehme ein Trolleybus in Richtung der Kiewer Nationaluniversität. Der Trolleybus ist eine gelbe Rostlaube. Sie bewegt sich langsam, wacklig und laut nach vorne, was mir die Angst um mein Leben macht. Wir fahren durch eine sechsspurige Strasse am Stadion und an Hochhäusern vorbei, die alle eins gemeinsam haben: sie sehen vernachlässigt, schmutzig und verwelkt aus. Nur das Schlossgebäude der Botschaft der Russischen Föderation ist frisch renoviert und von gepanzerten Autos der Beamter umgeben: Fenstergläser mit Spiegelungseffekt glänzen selbst an diesem trüben Herbsttag in sieben Regenbogenfarben. In allen europäischen Hauptstädten vermitteln russische Botschaften einen Eindruck von Majestät und Erhabenheit, ein schamloses Prahlen und Hochstapelei. Man soll denken, dass es in Russland überall so glänzend aussieht. De facto ist es aber ein grosser Irrtum, eine Angeberei, die einem Potemkinschen Dorf ähnelt. Tatsächlich sieht es überall in Russland (ausser vielleicht im Zentrum von Moskau) noch dekadenter und verwahrloster aus, als hier in Kiew.

Um die Villa zu erreichen, in dem meine Auftraggeber wohnen, muss ich eine halbe Stunde lang unter dem Regen über arglistige Pfützen springen. Wenn ich eine kleine trockene Insel nicht treffe, versinken meine Füsse im Schlamm. Als ich endlich am Eingang klingle, sind meine neuen Schuhe kaputt. Der amerikanische Geländewagen steht in der hässlichen Garage daneben. Das Haus wurde im späten neunzehnten Jahrhundert gebaut und gehörte früher der Familie Tereschenko, bekannten ukrainischen Mäzenen. Ihre Bildersammlung aus der damaligen Zeit legte die Basis für das Ukrainische Nationalmuseum der Westeuropäischen Malerei. Den neuen Hausherren treffe ich im Hausflur. Er trägt Pelzpantoffeln und einen hellblauen Pyjama. Wir fahren mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage. Er legt eine Hand um meine Taille und fragt mich, ob ich ein Nacktportrait von ihm malen kann. Er ist ein Kopf kleiner als ich und ziemlich dick. Er ist der Dekan einer etablierten Universität in Kiew. Er glaubt, dass er unwiderstehlich ist. Dabei versucht er, mich in die Brustwarze zu kneifen. Ich wende mich von ihm ab, antworte, dass ich zuerst den Stuck malen muss.

Glücklicherweise sind wir in der Wohnung nicht alleine! Zwei junge Typen verglasen den schicken Balkon mit Eisengussornamenten. Sie machen daraus eine gemütliche Kiste aus Plastik und Plexiglas. Wir trinken Instant-Kaffee und warten auf die Frau des Dekans. Als sie endlich kommt, schaue ich ihr tief in die Augen. Sie ist grösser als ich, blond und hat ein Fuchsgesicht. Die Haare sind sehr kurz geschnitten. Sie trägt einen herrschaftlichen Pelzmantel. Die Wohnung ist das Erbe ihrer Urgrossmutter, der Frau eines wohlhabenden Kaufmannes, sagt sie. Mit dem Mann hat sie einen Ehevertrag: sie bietet die Wohnung, er die Renovation, sagt sie. Er gehorcht ihr voll und ganz, sagt sie. Wenn sie meint „Genauso, wie damals“, dann heisst es für ihn, eben, „genauso, wie damals“, sagt sie. „Aber weit gefehlt!“, denke ich. Wenn die Wände früher die Farbe einer verwelkten aschfarbigen Rose hatten, dann werden sie nun Pink. Grell und aufdringlich Pink. Dabei wollen die Hausherren die Gipsimitation „auch nicht ganz so kontrastreich, wie es damals war“. Die verfügen über eine Farbwahrnehmung!

Mein Schweizer Auftraggeber holt mich mit seinem weissen SLK-Sportcabrio am Bahnhof in St. Blaise ab, obwohl draussen die Sonne scheint und die Fahrt zu ihrem Haus höchstens drei Minuten dauert. Das Haus ist eine Villa mit einem Flachdach und Panoramagläsern statt Wänden. Die Hausherrin begrüsst uns im Flur. Sie ist stilvoll angezogen. Graue, fast silberne Haare, sehr kurz geschnitten. Sie lächelt mich freundlich an und bittet mich hereinzukommen. Die Inneneinrichtung ist schick und modern gestaltet. Die Möbel aus dunklem Holz, bequeme Sessel, Designer-Lampen aus Stahl. Klassik und Moderne ergänzen sich leicht und ungekünstelt. Nicht mal ein Gefühl der Sterilität, der Abiose, das mich so oft überkommt, wenn ich Photos in diversen Katalogen durchblättere. Und der Raum wird auch nicht überladen von lieben, kleinen, herzigen Dingen, von denen es früher oder später einfach viel zu viele gibt. Die Aussicht auf den Lac du Neuchatel ist idyllisch. Neben dem Fenster steht ein Notenpult. Auf einem Couchtisch liegt die Blockflöte. Er veranstaltet manchmal kleine Hauskonzerte für seine Liebste, sagt er. Der Hausherr macht eine kleine Hausführung und zeigt mir ein abstraktes Bild, das sein Bruder gemalt hat. Es gibt eine LCD-Hintergrundbeleuchtung und einige Details setzen sich in Bewegung, wenn man sie anschaltet. Er zeigt mir, wie es funktioniert. Wir stossen mit Champagner an, ehren das Geburtstagskind. Sie sagen, dass sie noch mindestens dreissig Jahren das Zusammenleben zu geniessen planen. Und mindestens fünfzehn Jahren den Sex. Ich freue mich darüber.

Wie viel Bedenken ich auch immer verspüre, ist es jetzt die Zeit zu beginnen. Ich halte meine Drucksachen an der Wand. Ich habe  keine Ahnung, wie ich weiter vorgehen soll! Die Frau des Hausherrn kommt mir zur Hilfe. Vom letzten Mal sind ja Kartonschablonen geblieben, sagt sie. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie Stuck nachmalen, sagt sie. Schablonen und Kurvenlineale liegen irgendwo auf dem Dachboden. Ich atme erleichtert aus. Wenn ich Schablonen nachzeichne, bleibt nur das Ausmalen. Mit einem scharf gespitzten Bleistift, nur leicht berührend, zeichne ich Konturen, der vorgegebenen Bahn folgend. Linien sind lang und fliessend. Ich wiederhole sanfte Kurven, beim Auslauf gibt es immer ein Akzent. Ich male Schnörkel ganz genau nach, Schnörkel, die jemand vor mir von jemandem anderen abmalte, und derjenige auch vor ihm, und der andere auch von irgendwem, von irgendwoher, irgendwann. Es ist eine Imitation der Imitation der Imitation. Es ist wichtig, dass man irgendeine Tradition, irgendeine alte Sitte pflegt. Vielleicht gab es hier früher tatsächlich solche Schnörkel aus Gips. Vielleicht auch nicht. Als das Haus gebaut wurde herrschte in der Architektur die Moderne. Diese Dekoration erinnert aber eher an Barock, das durch überflüssige Affektiertheit und Pompösität gekennzeichnet ist. Das Ornament ist eine Erinnerung ans  18. Jahrhundert, als die Übersättigung des sogenannten Adels Grundlagen für Trends und Stile der Zeit legte. Heute, in einem Haus des 21. Jahrhunderts, sieht es komisch, fast schon sarkastisch aus, wie plakative Kostüme von König und Königin auf dem Quai von Jalta auf der Krim. Kostüme, die Touristen für einen elenden Betrag anziehen dürfen, um ein anderes, adliges Leben anzuprobieren.

Wenn ich male, sitze ich auf dem Laufgerüst, der Rücken stark gekrümmt, direkt unter der Decke. Innerhalb der Kontur male ich alles mit Weiss an. Dann füge ich Zwischentöne hinzu. Wenn die Farbe feucht ist, ist sie grell. Wenn sie trocknet, wird sie heller. Es kommt zu blass an. Ich füge noch eine Schicht dazu. Immer noch blass. Einige Stellen werden heller als nötig, die anderen dunkler. Ich brauche viel Zeit, um den Prozess in Gang zu bringen. Erst am späten Abend nach der Arbeit gönne ich mir einen Spaziergang im Park und eine Kugel Eis.

Ich arbeite zehn Tage lang, vom Morgen bis zum Abend. Am elften Tag, als ich endlich fertig werde, bin ich so müde wie noch nie. Aber ich bin auch froh, weil der Hausherr mir für diese Arbeit drei Hunderterscheine in die Hand drückt. US-Dollar. Das ist zwei Mal mehr als ich im Büro als Grafikerin verdiente, obwohl ich mindestens vierundzwanzig Tage im Monat dort verbrachte. Von diesem Geld kann ich ein Monat lang essen und mich der Kunst widmen. Dazu gibt es eine tolle Umarmung und den Atem des Hausherren, der nach Schweinefleisch mit Knoblauch riecht. Ich wende mich ab und denke, dass ich das Nacktportrait von ihm doch nicht malen will.

Vor der Tantramassage dusche ich, putze die Zähne, creme mich ein. Ich gehe ins sanctum sanctorum, ins eheliche Schlafzimmer, nur in ein Handtuch gehüllt. Die Hausherrin enthüllt sich langsam. Sie trägt schwarze Strapse und Spitzenunterwäsche. Sie hat sich für uns schön gemacht. Mir ist es etwas peinlich. Ich besass nie eine solche Unterwäsche. Ich werfe mein Handtuch schnell weg. Nun stehe ich nackt vor ihr. Im Zimmer herrscht ein orangenes Zwielicht. Meine Klientin ist jetzt auch nackt. Sie legt sich auf den Bauch.Wie viel Bedenken ich auch immer verspüre, ist es jetzt die Zeit zu beginnen. Ich lege mich auf sie, mit meinem ganzen Körper. Ich drücke etwas fester mit den Brüsten. Sie stöhnt leise. Ich setze mich neben sie und fange an. Wenn ich ihren Rücken berühre, zeichne ich Konturen, den vorgegebenen Energiebahnen folgend. Linien sind lang und fliessend. Ich wiederhole sanfte Kurven, beim Auslauf gibt es immer einen Akzent. Die Tantramassage besteht aus einer Sequenz von sanften Streicheleinheiten, die immer genau gleich und in einer bestimmten Reihenfolge wiederholt werden. Davarumi, ein Berliner Tantra-Guru lehrt es so in seinem Tantra-Tempel. Diese Massage hat eine lange Vorgeschichte, behauptet er. Es gibt eine Legende, die besagt, dass die Frauen vor Tausenden Jahren in den Höhlen ihre Männer genauso massiert haben, behauptet er. Es gibt Regeln, Schablonen, ideelle Kurven, behauptet er, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende bewährt haben. 

Ich male Schnörkel ganz genau nach, Schnörkel, die jemand vor mir von jemandem anderen abmalte, und derjenige auch vor ihm, und der andere auch von irgendwem, von irgendwoher, irgendwann. Es ist eine Imitation der Imitation der Imitation. Es ist wichtig, dass man irgendeine Tradition, irgendeine alte Sitte pflegt. Vielleicht gab es tatsächlich solche Berührungssequenzen. Vielleicht auch nicht.

Der Körper der Frau ist ein Sprudel, dessen Flussrichtung ich folge. Ich bewundere die Hautfarbe, die mit heissen Öl befeuchtet ist und glänzt. Ich betrachte sehr aufmerksam jeden Körperteil, jedes Muttermal, jeden Muskel. Ich habe mollige Körper, magere Körper, durchtrainierte, junge und alte Körper gesehen. Alle diese Körper waren bedürftig, allen mangelte es an Liebkosungen und Berührung. Nachdem ich viele Männer gekannt habe, ist es eine Wonne, eine Frau berühren zu dürfen. Ich massiere ihre Füsse, gleite mit meinem Körper über ihren Körper, atme laut.

Ich bitte sie, sich auf den Rücken zu legen. Ich berühre ihre Arme und Hände. Mit einer acht umkreise ich ihre Brüste. Ich kreise mit den Händen um den Bauch und nähere mich langsam der Scham. Ich bedecke sie mit einer Hand, berühre ihre Lippen mit der anderen. In diesem Licht erscheinen ihre Schamlippen aschfarbig. Sie schwellen etwas an und öffnen sich, wie eine Rose. Ich umkreise die Perle, immer Mal wieder, dann wird die Berührung fordernder. Als ich einen Finger einführe und ihn schneller und schneller bewege, wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wie ich weiter vorgehen soll. Die Frau des Hausherren kommt mir zur Hilfe, indem sie tiefer einatmet, stöhnt und ihren Körper stark zittern lässt.

Wir ruhen uns aus, umarmen uns. Ihr Mann kommt zu uns. Er ist nackt. Sein Glied ist steif. Ich verlasse die Frau. Jetzt ist er dran. Er nimmt sie. Ich setze mich in einen Sessel und beobachte. Ihre Vereinigung ist mit einer Freude erfüllt, die ich in Gedanken nur mit einem Wort fassen kann: Glück. Ich schaue auf die Uhr. Es sind erst neunzig Minuten vergangen, seitdem ich hierher gekommen bin. Ich fühle mich gar nicht müde, eher stark energetisiert. Später trinken wir Lindenblütentee auf ihrer riesigen Terrasse. Der Hausherr drückt mir drei Hundertscheine in die Hand. Schweizer Franken. Das ist genauso viel, sogar etwas mehr, als ich damals für meine Stuckimitate im rosafarbigen Schlafzimmer verdiente. Von diesem Geld kann ich hier noch eine Woche leben und mich meiner Kunst widmen.

Ich verabschiede mich höflich, lasse die Eheleute allein. Ich will den Rest des Abends in der Bieler Galerie verbringen. In einer Woche läuft mein Schweizer Visum ab. Nach der Präsentation der Zeichnungen muss ich Biel verlassen und nach Bielohorodka zurückkehren.

Auf dem Rückweg lese ich eine Zeitung. Im Artikel auf der ersten Seite geht es um illegale Ostblock-Prostituierte. Schweizer Feministinnen äussern sich dazu:

„Es handelt sich um böse Menschenrechtsverletzungen und um Menschenhandel. Wir müssen alles tun, um den Missbrauch von osteuropäischen Frauen zu verhindern. Wir müssen sie schützen, indem wir die Prostitution möglichst begrenzen!“, behauptet eine Frauenbeauftragte.“

Eine Frauenbeauftragte. So ein seltsames Wort.  

Wer schützt mich, wenn die Schweizer Feministinnen illegale osteuropäische Prostituierte „schützen“? Vladimir Putin vielleicht? Indem er die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine „schützt“? Indem er den Krieg bis nach Kiew ausweitet?

Ich überlege, wie mein Leben weiter gehen soll.

© Elias Kirsche & Alina Kopytsa