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Die Gesellschaftskunde

In der Gesellschaftskunde lernen alle Kinder, wie man Weissbrot produziert und warum es in der russischen Sprache das Sprichwort „Brot ist allen Dingen das Haupt“ gibt. Weil Brot für das menschliche Leben halt sehr wichtig ist. Weil man jeden Tag Weissbrot isst. Nein, weil man jeden Tag Weissbrot essen muss. Vor allem Kinder! Alle Kinder müssen jeden Tag Weissbrot essen. Aber bevor das Weissbrot zum Weissbrot wird, hat es einen langen Weg vor sich. Kinder können sich das noch gar nicht vorstellen, weil Kinder Weissbrot nur in seiner alltäglichen Erscheinungsform kennen. Als Weissbrot auf dem Regal im Lebensmittelgeschäft. Wo es jeder für nur zweiundzwanzig Kopeken einkaufen kann. Die kleinen Kinder haben einfach noch gar keine Ahnung, wie lang der Weg tatsächlich ist… Und diesen Weg erklärt sie, die Erzieherin, den Kindern anhand von Bildern. 

Noch bevor die Erzieherin ihre Bilder holt, fühlt er sich schuldig. Schuldig dafür, dass er als Kind keine Ahnung hat, was für einen langen Weg das Weissbrot durchläuft, bevor es zum fertigen Weissbrot wird. Er fühlt sich schuldig, dass er und seine Eltern das Weissbrot im Geschäft so günstig einkaufen. Aber auch dafür, dass er das Weissbrot, dieses teure Gut, täglich isst. Gleichzeitig will er das Weissbrot nicht essen. Nicht wirklich. 

Aber, er muss es essen. Er isst täglich Weissbrot, obwohl er es nicht will, weil er es muss. Und dann fühlt er sich dafür schuldig, dass er es isst.

Mit seinen sieben Jahren versucht er zu begreifen, was „wollen“, „müssen“ und „Schuld“ bedeuten. Und wie diese drei zusammen hängen.
Er begreift es nicht. Die klangvolle fröhliche Stimme der Erzieherin lenkt ihn ab und holt ihn zurück.

Die Erzieherin zeigt den Kindern grelle farbige Bilder, die den langen Weg vom Weizen zum fertigen günstigen Weissbrot für 22 Kopeken beschreiben. Sie zeigt das Bild mit einem Weizenfeld. Und das Bild mit vielen Frauen und Traktoren auf dem Weizenfeld. Alle diese Frauen und Traktoren… – sie alle arbeiten dafür, dass das Weissbrot zum Weissbrot wird, erklärt die Erzieherin. Die Jungs freuen sich, wenn sie viele Traktoren sehen. Sie äussern ihre Freude ganz offen. Sie zeigen mit ihren Zeigefingern auf die Traktoren im Bild. Sie werden laut. Fröhlich laut. Nach dem Gesellschaftskundeunterricht, wenn wieder Spielzeit ist, wird es unter den Jungs einen grossen Streit um den Traktor geben. Um den Spielzeugtraktor. Denn einen Spielzeugtraktor gibt es im Kindergarten nur ein Mal.

Die Erzieherin beruhigt die Jungs, indem sie mit ihrem langen Zeigestab auf den massiven Holztisch schlägt. Es wird sehr laut und gleich wieder sehr still. Dann zeigt sie den Kindern das Bild einer Fabrik mit vielen grossen grauen Maschinen, die Weissbrot produzieren. Und noch eins, mit vielen jungen Männern, die in der Fabrik arbeiten. Es folgt noch ein weiteres solches Bild. Und dann noch eins. Und noch eins. Die Bilder sehen sehr ähnlich aus und zeigen, wie lang der Weg ist. Die Erzieherin erklärt den Kindern monoton, aber ausführlich, die Funktion der Maschinen. Des Fliessbands. Des Backofens. Er kann die Maschinen schlecht voneinander unterscheiden. Es folgt das Bild mit einem LKW, der viele Weissbrote in ein Lebensmittelgeschäft transportiert. Am Steuer des LKWs sitzt ein junger Mann. Er freut sich und winkt den Kindern mit der Hand aus dem Fenster zu. Die Jungs freuen sich, wenn sie den jungen Mann sehen. Sie winken ihm engagiert zurück, sie beneiden ihn. Wenn sie gross sind, wollen sie auch Weissbrot ins Geschäft transportieren.

Die Erzieherin betont, dass auch im Feld, an der Maschine oder am Fliessband zu arbeiten schön und sicher interessant sein kann. Dass „erst die Arbeit von allen Menschen, die Arbeit von Männern und Frauen, den langen Weg zum fertigen günstigen Weissbrot für nur 22 Kopeken ins Geschäft ermöglicht“. Zum Schluss zeigt sie ein Lebensmittelgeschäft und eine lange Menschenschlange vor der Theke. Es ist eine Einkaufsschlange. Alle diese Menschen wollen frisches Weissbrot einkaufen. Hinter der Theke steht eine junge Frau. Die Verkäuferin. Über der Frau hängt ein Lenin-Porträt, wie bei den Kindern im Klassenzimmer. Lenin lächelt die Menschen in der Einkaufsschlange an.

Die Erzieherin sagt, dass jetzt Mittagszeit ist. Und, dass es heute zur Erbsensuppe ein besonders frisches und warmes Weissbrot gibt. Die Erzieherin sagt laut: 

„Guten Appetit!“

Und die Kinder, antworten im Chor: 

„Danke!“.

Als er am Tisch vor der dampfenden Erbsensuppe und einem Stück Weissbrot sitzt, kehrt er zu seiner Überlegung zurück, warum er das Weissbrot jetzt essen muss, obwohl er keinen Hunger verspürt. Obwohl das Weissbrot in Wirklichkeit so teuer, so kostbar und so schwer zu produzieren ist. Alle anderen Kinder sind schon lange fertig mit ihrem Essen. Und je tiefer er ins Grübeln versinkt, je länger er darüber nachdenkt, desto mehr vergeht ihm die Lust aufs Weissbrot. Als der Nachtisch serviert wird, kommt die Erzieherin wieder vorbei und versucht ihn energisch zum Essen zu animieren: 

„Die Suppe kannst du lassen. Aber iss doch wenigstens das Brot! Der Koch hat sich heute doch besonders viel Mühe gegeben!“ 

Er verweigert ihren Befehl und versucht verstohlen, einen Kompromiss zu finden, indem er langsam und widerwillig die kalte Erbsensuppe probiert. Er sagt, dass er kein Weissbrot will. Die Erzieherin versteht ihn nicht. Sie wird wütend. Sie läuft in Richtung Küche. Sie holt aus der Küche den Koch, einen groben, dicken, schwarzhaarigen Mann, der stark nach Schweiss und Knoblauch riecht. Alle Kinder im Kindergarten haben Angst vor dem Koch. Als er plötzlich in seinem weissen Kittel laut eintritt, verschwinden alle Kinder aus dem Raum. Der Koch hält eine riesige Schöpfkelle in der Hand. Die Schöpfkelle ist aus Stahl und glänzt in der Sonne.

Der Koch bedroht ihn mit seiner Schöpfkelle. Er sagt, er wird dem obersten Kindergartenleiter erzählen, „dass es hier im Kindergarten ein spezielles, boshaftes, gemeines Kind gibt, das anders als alle anderen Kinder ist! Das Kind, das das kostbare Weissbrot verweigert!“. Das Weissbrot, das er, der oberste Koch hier, extra für Kinder gebacken hat.

Nun muss er essen. Es hat funktioniert. Mit der Schöpfkelle und der Drohung, dass er sich bald vor dem obersten Kindergartenleiter zu rechtfertigen hat, erzeugt der Koch in ihm Angst. Er isst das Weissbrot, obwohl er es nicht will, obwohl er einen Klumpen im Hals verspürt. Er isst das kostbare Weissbrot und weint. Und er kann es sich nicht erklären, warum er dabei plötzlich weint. Erst als eine Kinderfrau, die den Tisch bedient, merkt, dass er weint, holt sie das Brot und die Suppe von ihm weg. Immerhin hat er eine Hälfte geschafft.

„Danke!“, sagt er zu ihr.